Sonntag, 26. August 2007

mdu 1 - Vorwort

Die Veröffentlichung des Buches Kissen in der Kunst. Die Grundlegung der Unterlagenforschung hatte zur Folge, daß mich ständig Hinweise auf weitere Kissen und verwandte Unterlagen aus dem Bereich der Kunst erreichten. Durch diese erfreuliche Resonanz ergaben sich immer neue Aspekte aus der angestrebten untergeordneten Perspektive und das Thema der ‚Unterlagenforschung’ entwickelte eine ganz eigene Dynamik, es wurde zum automobilen Fahrzeug[1].

Die ‚Unterlagenforschung’ hat seit ihrer ‚Grundlegung’ aber auch eine Wandlung vollzogen, denn zum eigentlichen Antrieb, an dem Thema weiterzuarbeiten, wurde zunehmend das Verhältnis von Kunst und Text, von Kunstwerk und Interpretation. Erklärtes Arbeitsgebiet der ‚Unterlagenforschung’ ist derzeit daher die Frage nach diesem Verhältnis, nach seiner Geschichte, seinen aktuellen Ausformungen und seinen Konsequenzen. Es geht spezieller um die Frage, ob heute der Text der Kunst oder die Kunst dem Text unterliegt.

Traditionellerweise wird das Primat des Kunstwerks vorausgesetzt und ein daran angelehnter Text hat dienende Funktion. Er beschreibt und erklärt das Werk, macht Werbung durch Sinn-, Erkenntnis- und Glücksversprechungen und verteidigt es gegen Angriffe auf seine Substanz und Bedeutung. Der Text über Kunst bereitet und festigt dem Kunstwerk seine Stellung in der Geschichte der Kunst und ist ihm ein guter Manager, zumindest ein treuer Fan.

Der kritische Text zur Kunst ist von solchen Texten durch seine Haltung zu unterscheiden. Kritik nimmt eine gleichberechtigte Position gegenüber der Kunst ein und fällt von da aus ihr Urteil. Diese Position gegenüber der Kunst zu rechtfertigen, ist nicht einfach, denn während die Kunst mit dem Erstgeburtsrecht und einer Tradition seit der Höhlenmalerei argumentieren kann, ist die Kunstkritik ein relativ neuer Emporkömmling aus dem 18.Jahrhundert. Der bürgerliche Neuling am Hofe der Kunst kämpft seitdem um seine Anerkennung und arbeitet gegen die Vorurteile an, Kritik setze erstens Elemente voraus, die mit Kunst gar nichts zu tun hätten, und zweitens benötige sie unabdingbar das Kunstwerk, was letztlich die untergeordnete Rolle der Kritik prinzipiell festschreibe. Dem muß, wenn auch widerwillig, der Kritiker zustimmen, denn man kann ihm mit einigem Recht vorwerfen: „Der eigentliche Ertrag der Kritik ist nicht die Kritik, sondern das Alibi“[2] Tatsächlich ist der Kritiker in der misslichen Lage, beweisen zu müssen, warum er nicht am Tatort war, warum er nicht selbst ein Kunstwerk gemacht und damit die radikalste Form der Kritik geübt habe, schließlich ist doch ein Kunstwerk der Todfeind des anderen[3].

Der Kunstkritiker kann daraus nur eine Folgerung ziehen: Die heilige Kuh wurde lange genug verehrt, es kommt darauf an, sie zu sein. Kunstkritik will aus geschichtlicher Notwendigkeit den Status der Kunst, mehr noch, sie will deren Platz einnehmen. Für diese beabsichtigte Entmachtung gibt es, wie bei jeder Revolution, keinerlei Rechtfertigung, solange der Umsturz noch nicht gelungen ist. Wenn er aber gelingt, wird die Kritik eine neue Hofordnung erlassen und die Kunstgeschichte des eigenen Sieges schreiben.

Die Aussichten dafür sind günstig, denn die aktuelle Entwicklung der Kunst ließe sich aus der Sicht der Kunstkritiker als offensichtliches Rückzugsgefecht beschreiben, zumindest könnte auf Kompromissbereitschaft erkannt werden, gemäß dem Motto: Wenn du einen Gegner nicht besiegen kannst, verbünde dich mit ihm. Künstler beziehen sich auf Kritiker, integrieren deren Arbeit in die eigene oder sie verbinden die beiden Bereiche durch eine Personalunion, indem sie sowohl als Künstler wie auch als Kritiker auftreten. Die Durchdringung der Bereiche Kunst und Kritik ist nicht neu und hat zahlreiche geschichtliche Vorbilder. Neu dagegen ist das Feld dieser Auseinandersetzung, einer Wiederauflage des ‚Paragone’, des Streits um die Vorherrschaft der Künste untereinander. Während früher die Bereiche von Kunst und Kritik noch aufgrund der gewählten formalen Mittel voneinander abzugrenzen waren, begibt sich die aktuelle Kunst, über die schon von Arnold Gehlen bestimmte Kommentarbedürftigkeit hinaus, zunehmend auf das Gebiet der Sprache. Kunst existiert heute bewusst vielfach nur noch als Text. Kunst und Kritik reagieren darauf durch gegenseitige Abstoßung, denn keiner Partei ist letztlich durch ein entropisches Verschwinden in einer undifferenzierten Textlichkeit gedient. Das bedeutet aber, daß sich heute Kunst und Kritik vor allem durch den gegenseitigen Widerstand definieren, auf ihn angewiesen sind und sich mit ihm entwickeln. Die Mitteilungen der Unterlagenforschung beabsichtigen daher, diesen Widerstand der Kritik zu leisten und dem der Kunst standzuhalten. Sie erscheinen in der Form einer Zeitschrift, um kontinuierlich auf den Stand der Entwicklung reagieren zu können.

Dieses Fachblatt ist sich dabei über die Situation im klaren, mit der Form einer privat finanzierten Zeitschrift nicht gerade das breitenwirksamste Medium für eine öffentliche Auseinandersetzung gewählt zu haben. Das Bewusstsein dieser publizistischen Ineffizienz überlagerte sich bei den Vorüberlegungen mit der Aufmerksamkeit für die Konjunktur des Virus als Modell aktueller Phänomene.[4] Fast zwangsläufig war die Übertragbarkeit der Beziehung von Zelle und Virus auf die Situation des sendungsbewussten Kritikers oder Künstlers zu konstatieren: ein Autor (Virus) versucht, seinen Text (DNS) in die Medien (Zellen) einzuschleusen. Dabei muß er die Adaptionsmechanismen kennen, sich ihnen anpassen oder Medien suchen, die sich seinem Text gegenüber aufgeschlossen zeigen. Dem Andocken eines Virus an die Rezeptoren einer Zelle, um ihre Schutzhülle zu durchdringen und in den Stoffwechsel zu gelangen, entspricht in der Analogie dem Kontakt mit Redakteuren, Lektoren, Ausstellungsmachern, Kustoden und Geldgebern. Spricht einer dieser Rezeptoren auf den Autor an, ist automatisch gewährleistet, daß das durch ihn repräsentierte Medium seinen Apparat dazu benutzt, den Text des Autors zu vervielfältigen und zu verbreiten. Mehr als die Multiplikation des Textes ist damit zunächst nicht geleistet.

Der virale Infektionsprozess durch einen Text findet dann seine Fortsetzung bei der Lektüre, bei der Wiederholung durch den Leser. Sind die Leser wiederum Rezeptoren von Medien, kann es zu einer Kettenreaktion kommen. Die Promiskuität im gesellschaftlichen Kunstsystem - jeder liest alles - begünstigt diese Verbreitung. Wenn schließlich der Seuchenfall eingetreten ist, muss von dem Erfolg eines Textes oder eines Kunstwerks gesprochen werden.

Ist der Leser ein Endverbraucher, auch wenn es diese Reinform im real existieren Kunstsystem nicht gibt, so werden in der Regel Bruchstücke des Textes - im Idealfall der ganze Text - in den Erfahrungsschatz eingebaut und sedimentieren zum Begriff der Kultur. Dem Verbreitungsprozess entgegen arbeiten die Antikörper, von den Organen des Systems produzierte Blocker, die sich aus dem Begriff der Qualität herausdestillieren lassen.

Die Reaktionen auf einen viralen Text sind nicht vorherzusagen. Eine Folgenabschätzung setzt kausale Reaktionsweisen voraus, die bei neuen Texten in ihrer Art und Weise vollkommen offen sind. Nach der Reaktion ist man schlauer. Wenn nichts passiert, gibt es dafür zwei Gründe. Entweder haben Gedächtnismoleküle als Antikörper den Text erkannt und seine Wirksamkeit blockiert, oder Ignoranz als Desinfektionsmittel hat den Text beseitigt. Mit beiden Möglichkeiten rechnet diese Zeitschrift nicht. Genauer, sie rechnet überhaupt nicht mit der Multiplikation, sondern mit der Subtraktion. Das Forschungsziel liegt unten.

Wenn es also ein Selbstverständnis in der Analogie von Text und Virus für die Mitteilungen der Unterlagenforschung gibt, dann in der Parallele zu den vorläufig noch so genannten Sub-Viren. Die Veterinärmedizin sucht unter diesem Arbeitsbegriff einen noch unbekannten Erreger für den Rinderwahnsinn, eine Krankheit, die wahrscheinlich durch tierische Eiweißstoffe im industriellen Kraftfutter für diese Pflanzenfresser verbreitet wird. Der Produktionsprozess von Kraftfutter schließt aus, daß sich im Endprodukt noch aktive Bakterien oder Viren befinden, weshalb die Auslösereaktion für den Rinderwahnsinn auf einer noch niedrigeren Stufe von organischen Verbindungen vermutet wird.

Die Mitteilungen der Unterlagenforschung kommen also als möglicherweise infiziertes theoretisches Kraftfutter auf den Markt. Sie sind kein Kampfblatt für Kritikerkunst sondern Trägersubstanz für subjektive Hypothesen, denen ein zielgerichteter Fortpflanzungstrieb nur bedingt zugesprochen werden kann, die aber trotzdem existieren und deswegen auch untergründig wirksam sein wollen.

Der Herausgeber
[1] Vgl. hierzu Hannes Böhringer: Kunst und Lebenskunst. Bern 1987.
[2] Odo Marquard: Abschied von der Philosophie der Geschichte. In: Poetik und Hermeneutik. Band 5. Geschichte - Ereignis und Erzählung. Reinhard Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), München 1973, S.246.
[3] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1970, S.59 und S.313f.
[4] Hierzu der Text/die Arbeit von Fritz Balthaus: Virus, Virus, wo sind deine Regionen! In: die tageszeitung, 18.10.88, S.16-17.



Keine Kommentare: