Donnerstag, 23. April 2009

mdu 2 - Uneinsamkeiten

Der sich selbst beobachtende Beobachter im Selbstgespräch - beobachtet.

1995 erschienen unter dem Titel Die Erfindung der Einsamkeit zwei Erzählungen von Paul Auster, die sich mit dem Tod, der Erinnerung und der Einsamkeit beschäftigen. Die erste Erzählung, Porträt eines Unsichtbaren, berichtet autobiographisch vom Tod des eigenen Vaters. Der stirbt plötzlich, einsam und allein, und der Sohn, der kaum noch Kontakt zu seinem Vater hatte, muss dessen Haushalt auflösen. Bei der Sichtung der hinterlassenen Dokumente rekonstruiert der Sohn ein Leben, das er nicht wahrgenommen hat, das ihm fremd geblieben ist und das ihm auch fremd bleiben wird. Die Erzählung leistet eine Trauerarbeit, die geprägt ist durch ein Gespräch mit dem Vater, das nie stattgefunden hat. Die Einsamkeit des gestorbenen Vaters findet ihre Fortsetzung in der Einsamkeit des Schriftstellers beim Schreiben. Auster entdeckt bei der Durchsicht der Sachen seines Vaters eine Photographie von „ihm“, dem Vater, den er nicht beim Namen nennt:

Aus einer Tüte mit ungeordneten Bildern: eine Trickphotographie, aufgenommen in einem Studio in Atlantic City irgendwann in den vierziger Jahren. Er sitzt gleich mehrmals um einen Tisch, jedesmal aus einem anderen Blickwinkel abgelichtet, so daß man es anfangs mit einer Gruppe verschiedener Männer zu tun zu haben glaubt. Da sie im Dustern und vollkommen reglos sitzen, machen sie den Eindruck, als seien sie zu einer Séance zusammengekommen. Und wenn man das Bild dann genauer betrachtet, erkennt man allmählich, daß alle diese Männer immer derselbe Mann sind. Die Séance wird zu einer echten Séance, so, als säße er dort nur, um sich selbst zu beschwören, sich selbst von den Toten zurückzuholen, als habe er sich durch seine Vervielfältigung versehentlich selbst zum Verschwinden gebracht. Er sitzt fünfmal dort, doch liegt es im Wesen der Trickphotographie, daß die verschiedenen Ausgaben seiner selbst keinen Blickkontakt miteinander haben können. Jeder einzelne ist dazu verurteilt, immerzu ins Leere zu starren, als lasteten die Blicke der anderen auf ihm, doch ohne etwas zu sehen, ohne je etwas sehen zu können. Es ist ein Bild des Todes, das Porträt eines Unsichtbaren.[1]
Diese Photographien, die Auster „Trickphotographien“ nennt und die mit Hilfe von zwei Spiegeln gemacht wurden, sind heute selten geworden. Mir sind nach Jahren der Suche nur um die sechzig historische Exemplare bekannt,[2] obwohl seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich Tausende von ihnen entstanden sein dürften. Darauf deutet die Photographie einer unbekannten Frau hin, zu der ich bis auf die ungesicherte Datierung keine Informationen habe. Rechts unten ist eine mitphotographierte Identifikationsnummer zu sehen, die der späteren Zuordnung von Photographie und Auftraggeber diente: „4901/121“. Das kann natürlich alles Mögliche bedeuten, aber es zeigt zumindest, dass die Aufnahmen seriell hergestellt worden sind, in einer so großen Anzahl, dass dieses Ordnungsprinzip benötigt wurde.

Im Vergleich zum Porträt von Sam Auster ist erkennbar, wie eine kleine Kopfdrehung oder ein etwas anderer Gesichtsausdruck den Gesamtcharakter der Photographie verändern können. Hier sieht man eine lustige Runde von Freundinnen oder Kolleginnen während der Arbeitspause. Jede Geste und jede Regung wird bei diesen Porträtphotographien sofort verfünffacht und präsentiert sich dem Betrachter eher als Charakter der Gesamtgruppe denn als individueller Ausdruck der porträtierten Person. Diese jungen Frauen sind offensichtlich durch die Situation, in der sie sich befinden, sehr amüsiert, und das ist eine Ausnahme. In den meisten mir bekannten Photographien dieser Art ist die Haltung der Personen ernst, etwas steif und sie scheinen irritiert durch die Spiegelbilder, die sie umgeben.

Diese Photographie zeigt Hugh John Lofting, einen britischen Ingenieur, der zwischen 1912 und 1916 in New York lebte, wo das Photo wahrscheinlich auch entstanden ist. 1916 wurde er zur britischen Armee einberufen und erlebte in Flandern den Ersten Weltkrieg, in dem er 1918 schwer verletzt wurde. Die Kriegserlebnisse veranlassten ihn, seine Karriere als Ingenieur abzubrechen und sich als Schriftsteller zu versuchen, und so schrieb Hugh Lofting ab 1920 die später weltbekannten Kindergeschichten des Doctor Dolittle, des Arztes, der mit den Tieren sprechen kann.

Fast zeitgleich, also noch während des Ersten Weltkriegs, entstand dieses Porträt von Stanislaw Ignacy Witkiewicz. Es wurde zwischen 1915 und 1917 aufgenommen, aber nicht in den USA, wie die meisten mir bekannten Photos dieser Art, sondern in St. Petersburg. Witkiewicz wurde 1885 in Warschau geboren – ein Jahr früher als Hugh Lofting – und er ist einer der wichtigsten Künstler der polnischen Avantgarde. Ab 1912 beschäftigte er sich intensiv mit der Photographie, insbesondere mit dem Porträt. Vor dem Hintergrund seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem photographischen Porträt, dem photographischen Selbstporträt und dessen Möglichkeit der Selbstinszenierung kommt dieser Photographie natürlich eine ganz andere Bedeutung zu als den Porträts von Auster oder Lofting aus einem kommerziellen Photostudio. Witkiewicz arbeitete als Künstler bewusst mit Selbstporträts. 1924 gründete er sogar eine Porträtfirma mit einer Geschäftsordnung, die über das bildnerische Ergebnis hinaus den gesamten Prozess, von der Beauftragung bis zur Rahmung des Porträts, als einen einheitlichen und zusammenhängenden künstlerischen Arbeitsprozess beschreibt. Unabhängig davon also, wer hier auf den Auslöser gedrückt hat, ist diese Photographie eine künstlerische Arbeit von Witkiewicz und wurde als solche auch wahrgenommen.

Ähnlich verhält es sich mit diesem Porträt, das auf 1907/08 datiert wird. Es zeigt den italienischen Futuristen Umberto Boccioni. Die Photographie wurde von Boccioni auf Papier montiert und zusätzlich oben in der Mitte und rechts an der Seite beschriftet mit „io / noi“ – ich / wir. Auch diese anonyme Studioaufnahme wurde als künstlerische Arbeit akzeptiert und ist eine der bekanntesten ihrer Art. Und damit komme ich zu der Photographie, die meine Beschäftigung mit diesem Motiv erst ausgelöst hat.

Sie ist 1917 in New York entstanden und der Porträtierte ist Marcel Duchamp. Die Photographie ist relativ häufig in der Duchamp-Literatur abgebildet worden und dabei oft – den eigentlichen Entstehungsprozess gänzlich verkennend – als Photomontage bezeichnet worden. Lange Zeit hat niemand, bis auf Serge Stauffer,[3] der lediglich eine „überraschende, wenn auch rein äußerliche“ Parallele zum Porträt von Witkiewicz festgestellt hat, über diese ungewöhnliche Photographie genauer nachgedacht. Sie wurde benutzt, um den Lebenslauf von Duchamp und sein jeweiliges Aussehen zu illustrieren, aber auf die Idee, dass es sich hierbei um eine künstlerische Arbeit von Duchamp handeln könnte, ist niemand gekommen.[4] Im umfangreichen Werkverzeichnis von Arturo Schwarz mit dem Titel „The Complete Works of Marcel Duchamp“ ist diese Photographie nicht aufgeführt. Sie taucht nicht einmal irgendwo als Vergleichsabbildung auf. Das hat mich immer gewundert. Ich erklärte es mir dadurch, dass einfach nicht genügend Informationen zu dieser Spiegelphotographie von Duchamp vorhanden waren.
Meine allererste Frage lautete daher: Wie wurden diese Photos eigentlich gemacht? Das Prinzip hatte ich nach einfachen Experimenten mit meinem dreiteiligen Spiegelschrank im Badezimmer schnell herausgefunden. Dann hatte ich 1998 im Rahmen einer Messepräsentation in Berlin die Möglichkeit, temporär ein Photostudio mit großen Spiegeln zu realisieren. Primäres Ziel war es, möglichst genau das Porträt von Duchamp im vorgegebenen Stil zu rekonstruieren. Ein zweiter Aspekt war der Umgang mit den unterschiedlichen Messebesuchern, denen angeboten wurde, sich auf diese Weise kostenlos photographieren zu lassen. Innerhalb von drei Tagen wurden mehr als einhundert Porträts hergestellt und die Beobachtung der Reaktionen vor, während und nach den Shootings war sehr aufschlussreich und bestätigte meine Vermutung, dass es sich dabei nicht nur um einen technischen Apparat, sondern auch um einen Selbsterfahrungsraum für die darin Porträtierten handelt. Die Reaktionen waren zum Teil sehr heftig und reichten vom spontan ausgelösten Lachkrampf bis zum plötzlichen Erschrecken und fast panischen sofortigen Verlassen des Studios. Danken möchte ich an dieser Stelle meinem Partner bei dieser Aktion, dem Photographen Werner Zellien, der vor allem die photographietechnischen Fragestellungen gelöst hat. Aufgrund seines Vorschlags entstanden die Aufnahmen als professionelle Schwarz-Weiß-Polaroids, die den Porträtierten gleich ausgehändigt werden konnten. Parallel dazu wurden vereinzelt Farbphotos gemacht. Zwei Jahre später wurde die Aktion mit farbigen Digitalphotos wiederholt.
Zurück zu der Frage, wie die Photographien eigentlich hergestellt werden. Fangen wir mit den Fakten an: Der das Bild ermöglichende Aufbau besteht aus zwei Spiegeln, die in einem Winkel von 72 Grad (ein Fünftelkreis) zueinander stehen. Die Spiegel müssen ungefähr einen Meter breit sein, um einen entsprechend breiten Bildausschnitt zu ermöglichen, und die Kamera muss circa fünf Meter von der Schnittachse der beiden Spiegel entfernt platziert werden, denn dort beginnt der Bereich, in dem sich die Kamera nicht mehr selbst in den Spiegeln spiegelt. Die Seitenbereiche zwischen den Spiegeln und der Kamera sind mit schwarzem Tuch verkleidet. Zwischen den Spiegeln steht ein kleiner dreieckiger Tisch, der sich durch die Spiegelungen zu einem fünfeckigen Tisch ergänzt.

An diesem Tisch sitzt man mit dem Rücken zur Kamera zwischen den Spiegeln auf einem Hocker. Die Beleuchtung kommt von oben, denn nur von hier kann eine Beleuchtung erfolgen, ohne dass die Lichtquelle selbst im Bild zu sehen ist.
Soweit das Technische, das sich ähnlich nüchtern beschreiben lässt wie das der Spiegelräume von Dan Graham oder der Video-Korridore von Bruce Nauman, die dann in ihrer Wahrnehmung aber ganz unerwartete und aufregende Erfahrungen auszulösen vermögen. Mir sind keine zeitgenössischen Berichte bekannt, aber es ist anzunehmen, dass die frühen photographischen Spiegelkabinette ähnlich komplexe Wahrnehmungen produziert haben und durchaus als Vorläufer medialer Selbsterfahrungsräume gelten können.
Was passiert also für den, der sich in diesem Spiegelkabinett photographieren lässt? Zunächst ist festzuhalten, dass man es in der Regel nicht unvorbereitet betritt. Man möchte ja so ein Fünffachporträt von sich selbst machen lassen und ist neugierig darauf, wie das wohl geht. Die Situation selbst ist allerdings beklemmend. Die Spiegelecke, in die man verwiesen wird, ist eng, enger als die gewohnten rechtwinkligen Raumecken. In dieser Spiegelecke fühlt man sich komplett isoliert, denn sobald man direkt vor den Spiegeln sitzt, sind die Kamera und der Photograph hinter einem nicht mehr zu sehen. In den Spiegeln reflektieren sich nur die schwarzen Tücher und das eigene Bild. Da die Spiegeloberflächen selbst und die unbeleuchteten Verkleidungen kaum zu sehen sind, bleibt man mit sich und seinen Spiegelbildern vollkommen allein.
Die Wahrnehmung der Spiegelbilder ist irritierend, denn sie verhalten sich nicht so, wie man es erwartet. Zunächst wird die Erwartung enttäuscht, sich fünfmal zu sehen wie auf den Photos. Dieser spezielle Anblick ist ausschließlich der Kamera vorbehalten, und man muss die Situation akzeptieren, selbst nur Teil einer Inszenierung zu sein, die von einer Kamera beobachtet wird, die dabei nicht beobachtet werden kann. Tatsächlich sieht man von sich selbst nur vier Spiegelbilder, und diese Spiegelbilder verhalten sich irritierenderweise ganz unterschiedlich. Zur Linken und zur Rechten sind vertraute seitenverkehrte Spiegelbilder. Man kann sich in die Augen schauen und hat die gewohnte Situation wie vor jedem Spiegel. Ungewöhnlich ist allerdings, dass, wenn man den Kopf zwischen diesen beiden Seitenspiegelungen hin und her dreht, sich die vier Spiegelbilder in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Das liegt daran, dass die beiden mittleren Spiegelungen doppelte Spiegelungen sind. Es sind die Spiegelungen der seitlichen Spiegelungen und daher nicht, wie gewohnt, seitenverkehrt. In diesen mittleren doppelten Spiegelungen kann man sich selbst so sehen, wie andere einen sehen. Das ist als unmittelbar erfahrbares bewegtes Abbild außergewöhnlich und, auf andere Weise, erst mit der Erfindung des Fernsehers Ende der 1920er Jahre möglich geworden. Wie ungewöhnlich muss daher diese Erfahrung zu Beginn des letzten Jahrhunderts gewesen sein.
Diese doppelten Spiegelbilder in der Mitte haben die Besonderheit, dass man ihnen prinzipiell nicht direkt in die Augen sehen kann. Man ist zwar ständig versucht, diesen Augenkontakt herzustellen, aber es gelingt nicht. Fixiert man beispielsweise die rechte doppelte Spiegelung, schaut das Spiegelbild nach links. Folgt man diesem Blick und dreht den Kopf zum gegenüberliegenden doppelten Spiegelbild, dreht dieses den Kopf nach rechts, ohne dass es dabei zum Augenkontakt kommt. Probiert man es auf andere Weise und fixiert beispielsweise rechts sein einfaches Spiegelbild, das dann wie gewohnt direkt zurückblickt, ist im Augenwinkel zu ahnen, dass auch die doppelte Spiegelung links einen direkt anschaut. Man ist versucht, den Kopf gerade zu halten und nur durch Verdrehen der Augen den Blickkontakt mit dem doppelten Spiegelbild herzustellen. Aber natürlich verdreht das dann auch die Augen und wieder kommt es nicht zu einem Blickkontakt. Diese scheinbare Unlogik resultiert aus einer komplexen Überkreuz-Zuordnung der einfachen mit den doppelten Spiegelungen.
Nach einer Weile des vergeblichen Versuchens ist man fast geneigt, den doppelten Spiegelbildern eine eigenständige Handlungsweise zu unterstellen, die darauf ausgerichtet zu sein scheint, bewusst den Augenkontakt zu vermeiden, je mehr man sich darum bemüht. Diese Mischung aus einfachen und doppelten Spiegelungen entwickelt daher ein gewisses Eigenleben. Die vier Spiegelbilder – und sie sind in der Mehrheit – lösen sich in der Wahrnehmung des Verursachers langsam von ihrer scheinbar eindeutigen Zuordnung zu einem identischen Urbild.
Das Verhältnis zum eigenen Bild ist damit komplex problematisiert. In diesem Spiegelkabinett geht es für den Porträtierten zwar zunächst nur um das Verhältnis zum eigenen Spiegelbild, dann aber auch um die Imagination eines sich ursprünglich davon ableitenden identischen Ichs, dann um die Ablösung davon und schließlich um die Auflösung eines identischen Bildes von sich selbst. Nicht genug damit. Dieser Prozess wird durch eine Kamera aus einer übergeordneten Perspektive mit einer zusätzlichen Ansicht beobachtet. Die Kamera ignoriert den vor ihr stattfindenden Erfahrungsprozess und setzt unterschiedslos und ganz neutral das Urbild und seine vier Spiegelbilder gleichwertig zu einem medialen Gruppenbild zusammen. Der Porträtierte dagegen, umgeben von unterschiedlichen Spiegelbildern, erfährt sich in der Abgeschlossenheit des Bildraums als sehr allein und besetzt von Bildern von sich selbst, die nicht einmal die eigenen sind.[5]
Es ist anzunehmen, dass es gerade diese kathartische Erfahrung war, die dieses Spiegelkabinett und die Aufnahmen, die in ihm entstanden sind, für die Künstler zu Beginn des letzten Jahrhunderts so interessant machte. Kunsthistorisch gesehen befinden wir uns in der Zeit kurz nach dem Höhepunkt des Analytischen Kubismus. Vielansichtigkeit, die Ablösung vom Erscheinungsbild, Umkehr und Auflösung der Zentralperspektive, Facettierung des Raums und des Gegenstands oder der porträtierten Person, das sind nur einige der Schlagworte, mit denen sich damals die Künstler und Theoretiker beschäftigten.

So weit der Anfang eines längeren Vortrags über diese Fünffachporträts, der seit Jahren in meiner Schublade lag. Anlässlich des Beitrags für diesen Katalog waren neue Recherchen notwendig und ich war hocherfreut, im Internet auf einen weiteren Sammler dieser Bilder zu stoßen. Irwin Reichwein aus Ottawa hat, angeregt durch den Erwerb einer solchen in Montreal entstandenen Photographie, die Ursprünge dieser photographischen Idee erforscht und jüngst veröffentlicht.[6] Bis dahin wurde in der Literatur diesbezüglich meist nur auf das 1897 erschienene Buch Magic: Stage Illusions, Special Effects and Trick Photography von Albert A. Hopkins hingewiesen. Reichwein aber hat die eigentliche Quelle für das Buch von Hopkins recherchiert und geht davon aus, dass der Photograph James B. Shaw wohl der erste war, der derartige Photographien hergestellt haben dürfte, und zwar bereits um 1893 in seinem Studio am Boardwalk in Atlantic City, New Jersey. Reichwein schließt das aus der frühesten ihm bekannten Erwähnung einer derartigen „kuriosen Anwendung der Photographie“ durch einen Mr. Shaw in der Zeitschrift The Popular Science News and Boston Journal of Chemistry (Oktober 1893, S. 148). Von hier aus scheint sich die Nachricht durch Fachzeitschriften für Photographie über die Welt verbreitet zu haben, wozu vor allem ein ausführlicher Artikel in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Scientific American (Oktober 1894, S. 216) beigetragen hat, den Reichstein vollständig zitiert. In dem Artikel wird das Arrangement von Spiegeln und Kamera erstmals vollständig und richtig beschrieben und mit drei Zeichnungen so illustriert, dass es jedermann nachbauen konnte. Reichwein benennt noch weitere, auch internationale Veröffentlichungen aus der Folgezeit und kommt zu dem Schluss, dass das Verfahren bereits um 1893/1894 allgemein und international für professionelle und Amateurphotographen bekannt war.
Die erste professionelle und zugleich kommerzielle Verwendung dieser Photographien, und als solche wurde sie auch in den Zeitschriftenartikeln empfohlen, war die Herstellung von Photopostkarten für Erholungssuchende, die entsprechend Zeit mitbrachten, offen waren für etwas Ungewöhnliches und die Daheimgebliebenen mit einer originellen Postkarte grüßen wollten. Über diesen Aspekt der Originalität hinaus scheinen dann Künstler weitere Möglichkeiten dieser Spiegelphotographien erkannt zu haben.

Der Architekt und Bildhauer Antoni Gaudí hat noch vor der Jahrhundertwende während des Baus der Sagrada Família in Barcelona photographische Modellstudien für Skulpturen in einem solchen Spiegelkabinett gemacht.[7] Ein Nachhall seiner Studien lässt sich möglicherweise im Skulpturenschmuck der Fassade feststellen. Dort rahmen vier Verkündigungsengel mit Posaunen die Darstellung der Geburt Christi, und diese Engel spiegeln sich in ihrer Haltung wie die vier Spiegelbilder in den Photographien. Wenn man diese Analogie zulässt, kommt man zu dem interessanten Ergebnis, dass hier nicht vier Engel dargestellt sind, sondern vielmehr vier Spiegelbilder von einem einzigen, für uns nicht sichtbaren und vor der Fassade schwebenden Engel.
Mit den Porträts von Boccioni, Witkiewicz und Duchamp setzt dann in den Jahren zwischen 1900 und 1920 eine Rezeption dieser Fünffachporträts ein, die unmittelbar die Reflexion des künstlerischen Arbeitsprozesses und des davon betroffenen Selbstverständnisses betrifft. Eingebettet ist das Interesse an diesen Photographien in eine allgemeine Infragestellung von Identität und gesellschaftlichen Festschreibungen, die sich auch in der zeitgenössischen Literatur wiederfinden lässt. Die Beschreibung des „Museums zur billigen Erstarrnis“ im ersten Kapitel von Carl Einsteins epochalem Roman Bebuquin (1907) geht nach meiner Einschätzung auf die Erfahrung dieses photographischen Spiegelkabinetts zurück, und die Erzählung Wälsungenblut (1906) von Thomas Mann, in dem das Ende einer untergehenden Epoche beschrieben wird, endet mit dem Inzest von Zwillingen auf dem Fußboden vor einem Kleiderschrank mit geöffneten Spiegeltüren. In deren Spiegelbildern hatte sich noch kurz zuvor der Bruder einsam und alleine und vergeblich seiner verloren geglaubten Identität zu vergewissern versucht, die durch die heftige platonische Liebe zu seiner seelenverwandten Schwester geprägt ist. Da seine Schwester einen anderen heiraten soll, droht das Ende dieser Jugendliebe. Der Tabubruch der Geschwister will diese geliebte Zweisamkeit retten, zerstört sie aber auch – wahrscheinlich. Ende offen. Tradierte Identität wird in dieser Zeit zunächst fraglich und zerbricht schließlich. „Singen wir das Lied von der gemeinsamen Einsamkeit“, schlägt Bebuquin seinem Spiegelbild resigniert vor und benennt damit eine Trauer, die Paul Auster Jahrzehnte später noch immer als Séance zur Beschwörung der Identität aus dem Spiegelporträt seines Vaters herauslesen kann.
Den Ausweg aus dieser allgemeinen Identitätskrise zu Beginn des Jahrhunderts scheint Marcel Duchamp gefunden zu haben: durch die Aufwertung des beschriebenen Spiegelapparats zur Wunschbildmaschine und die nachfolgende Ausarbeitung einer multiplen Identität. Deren Entwicklung beginnt bereits 1914 mit zwei von Duchamp veröffentlichten Notaten: „Faire une armoire à glace. [Einen Spiegelschrank machen.]“ und „Faire un tableau de fréquence: [Ein Bild der Frequenz (der Wiederholung) machen:]“. Nur drei Jahre später entsteht sein multiples Porträt zwischen den Spiegeln – für mich ein weiteres Readymade, das als solches nur noch nicht erkannt wurde.

Heinz-Werner Lawo


[1] Paul Auster: Die Erfindung der Einsamkeit. Übers.: Werner Schmitz, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 46-47. Orig.: The Invention of Solitude. New York 1982.
[2] Im Juli 2008 habe ich ein Blog eröffnet, die alle mir bekannten Photographien dieser Art präsentiert: http://www.uneinsamkeiten.blogspot.com/
[3] Serge Stauffer: Marcel Duchamp in Polen. Die Papierek Iakmusowy von S.I. Witkiewicz, 1921. In: Sondern. Jahrbuch für Texte und Bilder, Nr. 7, hrsg. von Dieter Schwarz, Zürich 1986, o.P.
[4] Zu spät erreichte mich der Hinweis auf James W. McManus: Trucage photographique et déplacement de l’objet. À propos d’une photographie de Marcel Duchamp prise devant un miroir à charnières (1917). In: Les Cahiers du Musée national d’art moderne, Nr. 92, Juli 2005, S. 94-111. McManus hat vor vier Jahren den Ankauf der Photographie durch das Centre Pompidou angeregt und arbeitet zurzeit an der Vorbereitung einer Ausstellung in der National Portrait Gallery, Washington D.C.: Inventing Marcel Duchamp: The Dynamics of Portraiture, 27. März bis 2. August 2009.
[5] Vgl. Jacques Dane: „One can look at seeing“. Kleine psychologie van een foto. In: Nieuwsbrief Nederlands Fotogenootschap, Nr. 7, Juli 2005, S. 19-21.
[6] Irwin Reichstein: A Multigraph from Montreal. In: Photographic Canadiana, 33. Jg., Nr. 1, Mai/Juni 2007, S. 12-17. Eine Zusammenfassung des Artikels durch Bob Carter findet sich auf der Internetseite der Photographic Historical Society of Canada: http://www.phsc.ca/reichstein.html
[7] Abbildungen in Juan José Lahuerta: Gaudí. Mailand 1992, S. 310; und in Antigone. Revue littéraire de photographie, Nr. 21, Frühjahr 1995, S. 110.


Dieser Text wurde im Juli 2008 geschrieben. Es ist die unedierte Version eines Beitrags zum Katalog Blickmaschinen oder wie die Bilder entstehen. Die zeitgenössische Kunst schaut auf die Sammlung Werner Nekes, Museum für Gegenwartskunst Siegen, Siegen 23.11.2008-10.05.2009, S. 251-258. In der Zwischenzeit sind mir zahlreiche weitere Photographien dieser Art bekannt geworden, die hier zu finden sind: http://www.uneinsamkeiten.blogspot.com/