Sonntag, 10. Juni 2007

Bildhauerisches


Palmström haut aus seinen Federbetten,
sozusagen , Marmorimpressionen:
Götter, Menschen, Bestien und Dämonen.

Aus dem Stegreif faßt er in die Daunen
des Plumeaus und springt zurück, zu prüfen,
leuchterschwingend, seine Schöpferlaunen.

Und im Spiel der Lichter und der Schatten
schaut er Zeuse, Ritter und Mulatten,
Tigerköpfe, Putten und Madonnen ...

träumt: Wenn Bildner all dies wirklich schüfen,
würden sie den Ruhm des Alters retten,
würden Rom und Hellas übersonnen!

Kissen in der Kunst


Die Grundlegung der Unterlagenforschung

Es sind immer wieder die Dinge, die sich uns widersetzen und uns zum Handeln und Nachdenken bewegen. Wir zwingen sie dann in der Regel, uns zu gehorchen und erreichen meist auch ein Abkommen mit ihnen, das uns beruhigt. Kontinuierlich ist und bleibt zum Beispiel der Kriegszustand mit der Bagatelle: der Bleistift, der immer abbricht, der Schnürsenkel, der reißt, wenn man es eilig hat oder der Zigarettenautomat, der das letzte Kleingeld schluckt, ohne sich zu bedanken. Offener Widerstand, der uns an die Grenzen des Aushaltbaren bringt. Gedenktafeln mit Inschriften wie „Diese Telefonzelle wurde mutwillig zerstört“ zeugen von solch verlorenen Scharmützeln.
Neben diesen klassischen Zweikämpfen in Wild-West-Manier, Mensch gegen Ding auf offener Straße, hat eine Dingspezies eine ganz perfide Kriegstechnik entwickelt. Es sind die Kissen. Sie beherrschen perfekt den passiven Widerstand. Werden sie in eine der berühmten Kissenschlachten verwickelt, zerlegen sie sich, bevor sie zwischen den Fronten aufgerieben werden, einfach in ihre Bestandteile und entwaffnen uns bis zur Hilflosigkeit. Oder die Kopfkissen – jede Nacht das gleiche Problem: Sie sind entweder zu weich oder zu hart, zu groß oder zu klein, werden zu warm oder wollen uns im Schlaf ersticken. Da sind die kleinen Stiche durch heraustretende Federkiele noch das kleinere Problem. Es gibt Leute, die deshalb ganz auf Kissen verzichten und lieber einen steifen Nacken in Kauf nehmen, als sich auf diesen Kampf einzulassen. Verständlich, wenn man einmal gesehen hat, wie Kissen auf dem Totenbett als die Überlebenden hämisch grinsen. Ich rate dazu, immer mehrere Kissen zu benutzen, da sie ausgeprägte Individualisten sind, sich selten verabreden und man sie so gegeneinander ausspielen kann.
Doch das sind alles Fragen des praktischen Umgangs mit Kissen. Komplizierter wird unser Verhältnis zu ihnen, wenn wir sie begreifen wollen. Man stößt dabei nämlich, und das ist das Problem, auf keine Grenze. Kissen geben nach und verweigern einen festen Begriff. Sie erscheinen uns immer nur als das Resultat unseres Versuchs, sie zu fassen. Das Kissen an sich bleibt davon ganz unberührt. Das beunruhigt insofern, da Kissen das offensichtliche Paradebeispiel für das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Inhalt und Form, Sein und Schein und Geist und Materie sind, dessen Reichtum wir nur oberflächlich begreifen. Nimmt man ein Kissen auseinander, hat man nur noch einen überhaupt nicht mehr fassbaren Haufen von Federn und eine leere Hülle. Kissen sind also als Einheit zu erfassen oder gar nicht.
Diese einfachste und pure Verbindung von Oberfläche und Raum erzeugt ein Ding, das als das Urplastische bezeichnet werden kann. Ein Kissen ist kein unquantifiziertes, amorphes Etwas. Es hat eine begrenzte Oberfläche und ein begrenztes Volumen, wodurch es zum Ding wird, aber es besitzt als Ding doch die ganze Unbestimmtheit und Ununterschiedenheit einer ursprünglichen Masse. Man würde den Charakter von Kissen verkennen, wenn man sie unter die Gegenstände rechnete. Es sind Widerstände – und zwar passive.
Kissen sind die Herausragende Metapher für das widerständig Verformbare und damit für die Kunst. Wenn Künstler sich mit Kissen beschäftigen, dann arbeiten sie, obwohl und gerade weil das Thema scheinbar so banal ist, an der Frage, was Kunst denn eigentlich sei. Nehmen wir als Beispiel das Kissenbild von Gerhard Richter: Es wirft zunächst die alte Frage nach dem Illusionismus in der Malerei auf. Wie ist etwas Räumliches in der Fläche darstellbar? Wie bewältigt Malerei die fehlende Dimension, und warum sehen wir nicht nur eine wie auch immer behandelte Oberfläche? Dazu ein kleiner Exkurs in die Fernsehtechnik:
Der in der Bildröhre entstehende und auf die Mattscheibe treffende Kathodenstrahl übernimmt und verwirklicht das in der Renaissance entwickelte Konzept der Sehpyramide zur illusionistischen Darstellung in der Fläche. Da aber das Fernsehbild aus zeilenmäßig geordneten Punkten aufgebaut wird, läuft der Kathodenstrahl winkelstabil zu einer waagerecht, zur Mattscheibe senkrecht zu denkenden Fläche. Es tritt dabei, weil die Mattscheibe keine Kugeloberfläche ist, die sogenannte Kissenverzeichnung auf. Bei einem abgebildeten Rechteck biegen sich die Kanten nach innen. Durch magnetische Felder wird dieser Effekt korrigiert. Im Auge erfolgt dann genau der umgekehrte Prozess. Ein gesehenes Rechteck erscheint, physikalisch betrachtet, auf der Netzhaut, gerade weil sie eine Kugeloberfläche ist, ebenfalls verzerrt. Die Kanten biegen sich nach außen. Hier übernimmt der Kopf die Korrektur.
Indem Gerhard Richter ein Kissen fast flächenfüllend ins Bildquadrat setzt, erzeugt er eine Spannung, die entweder eine optische Taillierung der Leinwand oder ein Plattbügeln des illusionistisch räumlich dargestellten Kissens produziert. Das Bild als Erscheinung und das Bild als Objekt verändern sich gegenseitig. Illusionismus wird vorgeführt und zurückgeführt. Das gleiche passiert in der Beziehung von Oberfläche und Bildtiefe. Die scheinbare Räumlichkeit des Kissens wird in die Farbfläche zurückgeholt durch einen letzten Arbeitsgang vor der Fertigstellung des Bildes. Richter verwischt die komplette Bildfläche, was als Arbeiten in der faktischen Farbfläche sichtbar bleibt, und bewirkt damit einen Weichzeichner, eine Mattscheibe, hinter der das Kissen erscheint. Die Farbfläche tritt auseinander in eine gesehene Oberfläche und einen gesehenen Raum. Grundfragen der Malerei werden verhandelt, und die Antworten bleiben so weich und unbestimmbar wie das Ding, an dem sich die Fragen stellen – dem Kissen.
Wenn Bildhauer sich mit Kissen beschäftigen, haben sie gegenüber den Malern den Vorteil, daß sie sich mit ihrer Kunst im gleichen Raum bewegen wie die Kissen. Doch sie haben es nicht leichter mit den Federgewichten. Hier stellt sich zunächst die Frage nach dem Material. Bei der althergebrachten Unterscheidung von Skulptur und Plastik, je nach dem harten bzw. weichen Ausgangsmaterial, könnte man denken, daß sich die Plastiker dem Kissen verbundener fühlen, als die Bildhauer. Weit gefehlt! Für beide ist der Herausforderer Kissen ein unangenehmer Gegner, denn das ganze mühselige Geschäft der auf- oder abbauenden Formfindung wird durch das Kissen mit heiterer Leichtigkeit ironisiert, indem es immer seine Form findet – ein Vorgang, den Duchamp in seiner Plastik „Trois Stoppages-Étalon“ an gefallenen Fäden demonstriert. Die Schnelligkeit, mit der Palmström in Morgensterns Gedicht eine Plastik nach der anderen schafft, der simple Handkantenschlag, der dem Sofakissen sofort eine durch und durch begründete Form gibt, zeigt: das Kissen ist per se die ideale und reale Plastik an sich. Während die unveränderliche Skulptur der Vergänglichkeit ausgeliefert ist, bleibt das Kissen ein Prozess. In ihm zeigt sich die Zeit als Wechsel von Stillstand und Veränderung. In ihm zeigt sich, was die „Alpenlandschaft“ von Fischli und Weiss andeutet, die Welt, und in ihm zeigt sich der formende und verändernde Eingriff des Menschen. Das Kissen ist die universelle Metapher. Es repräsentiert die Fülle der sich immer wieder anders ausbildenden Formen und Bedeutungen.
Kunst und Kultur beginnt mit der Erfindung des Kissens. Mit seiner Hilfe gelang es, die Härte des Daseins zu mildern und eine Unterlage zu schaffen für die heiteren und geistigen Seiten des Lebens. Ohne Polster wären solche Gespräche und Saufgelage, wie Platon sie im Symposion berichtet, nicht möglich gewesen. So sehr Kissen also die Grundlage für jede Art von Kunst sind, die ersten Beispiele für eine reflektierte Auseinandersetzung mit diesem Zusammenhang sind uns erst aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. überliefert. Eine Seitenwange des ludovisischen Throns und seines Gegenstücks zeigen auf Kissen sitzende Musiker. Es ist hier weniger der Gegensatz von flüchtiger Musik und dauerhafter Bildhauerei das Thema, als die Frage nach der Stellung des Menschen zwischen kosmischer Ordnung und formloser Materie. In der Musik versuchte der antike Mensch, die ideale Harmonie der Sphärenmusik nachzubilden. Diese Annäherung an das Ideale erforderte eine Distanz zum Realen, die durch das Kissen hergestellt wird, hergestellt werden kann, weil das Kissen Realität und Idealität in sich vermittelt. Es ermöglicht den Übergang zwischen Gegensätzen.
In der zeitgleichen philosophischen Schul der Pythagoreer, den Begründern der Sphärenmusik, ist das duale Denken das alles bestimmende Prinzip. Der für sie grundlegende Gegensatz ist der zwischen Grenze (peras) und dem Unbegrenzten (apeiron). Das Kissen als das begrenzte Ding mit der unbegrenzten und unbestimmbaren Form bietet dem gegenständlich arbeitenden Künstler die Möglichkeit, sich zu dieser abstrakten Problematik zu äußern.
Auch in der Atlasmetope vom Zeustempel in Olympia erscheint das Kissen als Grenzphänomen. Dargestellt ist eine der Taten des Herakles. Seine elfte Aufgaben bestand darin, die goldenen Äpfel der Hesperiden zu holen, von einem Nymphenvolk also, das dort wohnt, wo der Abendstern steht, im äußersten Westen, an der Grenze der bekannten Welt. Dorthin aber konnte nur Atlas gelangen, der durch seien Beschäftigung als Himmelsträger unabkömmlich und gebunden war. Herakles löste seine Aufgabe dadurch daß er für die Dauer der Abwesenheit von Atlas dessen Arbeit übernahm. Der Bildhauer der Atlasmetope zeigt den Moment, in dem Atlas mit den Äpfeln zurückkehrt. Herakles stützt den Himmel unter leichter Mithilfe von Athene. Entscheidende Bedeutung kommt dem Kissen auf Herakles` Schultern zu. Es ist keine freundliche Geste des Bildhauers, die dem Helden eine gewisse Bequemlichkeit erlaubt. Dem Künstler kam es darauf an, eine Grenze und das Heranreichen an sie dazustellen. Die Grenze zwischen dem Himmel und dem Menschen, die bei der helfenden Göttin nicht existiert, musste bei dem an den Himmel fassenden Menschen betont werden. Das Kissen symbolisiert Trennung wie auch Verbindung des Helden zum Bereich der Götter.
Diese Symbolik scheint im Mittelalter vergessen. Sie existiert residual in den Sitzkissen bei Darstellungen der schreibenden Evangelisten. In dieser Zeit transformiert das Kissen zum Attribut der Schriftsteller, Dichter und Büchermacher. Die zu Geistigem erhebende und befähigende Funktion des Kissens, sowohl in praktischer wie in symbolischer Hinsicht, legte diese Zuordnung nahe.
Wie für vieles ist auch für das Kissen die Renaissance ein Neubeginn. Im Jahre 1493 entdeckt der junge Dürer das Kissen als autonomes, bildwürdiges Sujet. Seine Kissenzeichnungen, von der Kunstgeschichtsschreibung als Faltenstudien vollkommen missverstanden, beweisen: Die Renaissance, gemeinhin als Wiedergeburt der Antike und Entdeckung des Individuums verstanden, ist in gleichem Maße die Wiederentdeckung des Dings. Dürers Zeichnung „Selbstbildnis mit Hand und Kissen“ formuliert das mit aller Deutlichkeit. Er setzt hier das Selbstporträt, den zentralen Ausdruck für die Selbstreflexion des künstlerischen Subjekts, mit dem Kissen, dem Ding, in einen korrelativen Zusammenhang. Die spiegelverkehrte rechte Zeichenhand, durch Größenverhältnisse im Vordergrund, vervollständigt die Trinität von Mensch, Ding und Handlung. Innerhalb des Blattes sind die drei Pole zeichnerisch so unverbunden, wie inhaltlich ihre Beziehung ungeklärt ist. Offensichtlich ist nur, daß ein einheitlicher Kontext vorhanden und dabei die Hand, mithin die künstlerische Produktion, hervorgehoben ist. Mit diesem Blatt formulierte Dürer das Programm für jede weitere künstlerische Tätigkeit. Die Frage, was der Mensch, ein Ding oder die Kunst sei, beantwortet sich nicht theoretisch, sondern in immer wieder neuen Handlungen, im Umgehen mit den Dingen. Für den Künstler heißt das: der immer wieder neu anzusetzende Versuch, ein Ding, und speziell für alle, das Kissen zu begreifen.
Das Kissen ist Prozess und er beschleunigt sich mit Dürers Zeichnung „Sechs Kissen“. Der übliche Titel verkennt die Problematik des Blattes, da es keine summarische Anhäufung von sechs unterschiedlichen Kissen zeigt, sondern eine Abfolge, in der sich die Auffassung vom Kissen entwickelt und verändert. In der ersten Zeile sieht man noch zwei verschiedene Kissen, da sie sich überlappen, durch Schattenwurf aufeinander beziehen und gemeinsam auf einer Unterlage liegen. Diese Kissen hängen ab von einem einheitlichen Raum, der sie der Schwerkraft unterwirft. Die vier Kissenvariationen der nächsten Zeilen erscheinen nicht mehr als abhängig Objekte im Raum. Es sind autonome Dinge, die nur der eigenen Gesetzlichkeit unterliegen und die eine andere Form der Darstellung fordern – den Übergang vom Zeichnen zum Zeichen schreiben. Dürer beschreibt das Blatt mit Kissen, mit einem Zeichen, das er kontinuierlich wiederholt und das sich dabei verändert. Er beschreibt Zustände und Ansichten des einen Kissens, das als Metapher für die Möglichleiten und die Fülle und für die Kunst selbst steht.
Jedes weitere Kissen in der Kunst ist eine Fortschreibung dieser von Dürer begonnenen Reihe. Im Tafelteil ist sie weiter zu verfolgen, wobei man feststellen wird, daß sich Künstler vor allem dem Kontext gewidmet haben.
Begegnet man dem Kissen in der Kunst, wird man in eine strategisch geführte Auseinandersetzung hineingezogen, deren Ziel es ist, zu unterliegen. Es geht um die Basis. Wer die Position des Zugrundeliegenden einnehmen kann bestimmt als Unterlage den Überbau, und die Tiefe eines Gedankens entscheidet sich daran, ob er sich unter sein Objekt schieben kann oder auf ihm liegen bleibt.
(Dieser Text erschien 1988 als Buch im Eigenverlag mit zahlreichen Abbildungen, Auflage: 100 Exemplare. Ein Wiederabdruck des Textes mit Kürzungen erfolgte in: die tageszeitung, 3.Mai 1988, S.13-15. Übersetzungen dieser gekürzten Fassung in: Mediamatik 6, Nr.4, 1992, S.276-281, engl. (Pillows in Art) von Ann Thursfield, niederl. von Bilwet.)