Sonntag, 26. August 2007

mdu 1 - Ansichtssache

"Du kannst det anders sehn, aber det is meine Ansicht von der janzen Jeschichte."[1] Mit der Beschwörung des allgemein anerkannten Konsenses, daß jedes Ding zwei Seiten hat, gelingt es in der Regel, strittige Konfrontationen zu deeskalieren, bevor sie zur Gefahr für Leib und Leben werden. Wenn der andere es zulässt, kann man die Dinge unterschiedlich sehen, jeder anders und jeder für sich, schließlich ist die offene Vielfalt der Meinungen eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein dauerhaftes Zusammenleben mit anderen Menschen.

Unsere Koexistenz mit den Dingen, und ganz speziell mit den Dingen in der Kunst, ist nicht durch Rahmenbedingungen, wie sie der Überlebenswille vorgibt, geregelt und gerade deswegen problematisch. Zum einen fehlt die Androhung des Vergeltungsschlages. Die Kunstwerke erdulden mit extremer Lethargie alle Hammerschläge, Messerstiche, Säureattentate und sogar die Interpretationen von fachkundiger Seite, ohne auch nur im Entferntesten an Widerstand zu denken. Zum anderen, und das vor allem ist für das gestörte Miteinander ausschlaggebend, reden die Kunstwerke nicht mit uns. Um diesen unakzeptablen Zustand zu beenden, wurde von Anfang an in der Kunst nach versteckten Zeichen und dechiffrierbaren Codes gefahndet. Es wurden Kommunikationsmodelle konstruiert und voller Überschwang und froher Erwartung euphorisch von einem 'Dialog mit dem Kunstwerk' geschwärmt. Doch realistisch betrachtet, ähneln diese Kommunikationsversuche eher denen zwischen einem Hund und seinem 'Herrchen'.[2]

Was uns die Kunstwerke 'sagen' ist eben nicht ihre Meinung, sondern unsere eigene metaphorisierte Interpretation dessen, was wir hören wollen. Selbst wenn, was vorkommt, Kunst mit Sprache operiert, wird zwar etwas gesagt, aber nicht, was daran die Kunst ist, und genau das macht das Gesagte erst problematisch.

Um diesen sogenannten 'Dialog mit dem Kunstwerk' genauer zu verstehen, ist es hilfreich, mit einer klärenden begrifflichen Unterscheidung zu beginnen und zwar der zwischen Ansicht und Anschauung. Mit Ansicht bezeichnen wir eine Seite dessen, was sich uns als Objekt darbietet, während die Anschauung die Art und Weise bezeichnet, wie diese Ansicht wahrgenommen wird.

Der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler hat genau mit dieser Unterscheidung schon vor mehr als hundert Jahren versucht, den objektiven Bestand des Kunstwerks von seiner Interpretation zu trennen: "So paradox es klingen mag, so fängt die Kunst doch erst da an, wo die Anschauung aufhört."[3] Fiedler warnte seine schwärmerischen Zeitgenossen nachdrücklich vor Fehleinschätzungen, wenn er feststellt: "Die Wirkung, die ein Kunstwerk hervorbringt, hängt zum größten Teil von der Anschauung ab, die sich der Empfangende über Wesen und Aufgabe der Kunst gebildet hat, und gibt viel eher einen Maßstab für den geistigen Zustand des Publikums, als für den Wert des Kunstwerkes."[4] Wenn sich aber noch heute, trotz dieser Warnung, die Begriffe Anschauung und Ansicht in der Alltagssprache verschleifen, so liegt das an dem verständlichen Wunsch nach Verbindlichkeit. Der Mensch hat ein Konsensbedürfnis, und dem opfert er gern die Genauigkeit.

Haben sich einmal mehrere geeinigt, so ist es eine erprobte Konsenssicherungstechnik, die einmal gefasste Meinung durch Hinterlegung einer Bürgschaft beim Kunstwerk, in der Form einer 'Aussage des Kunstwerks', vor inhaltlichen Forderungen Dritter zu schützen. Da Kunstwerke aber uneingeschränkt Kredit gewähren, steht dieser Weg letztlich auch anderen offen. Geraten nun derart abgesicherte Positionen in Streit, müssen sich die Attacken zunächst gegen diese Absicherung richten und das geschieht - mit der Methode Fiedlers - über den Begriff der Anschauung, der die 'Aussage des Kunstwerks' als reflexives Soufflieren durch den Interpreten entlarvt. Auch das ist aber ein zweischneidiges rhetorisches Mittel, denn es besteht die Gefahr, daß die Bürgschaften seitens des Kunstwerks wechselseitig ausgelöst werden und keiner mehr seine Überzeugung begründen kann. Damit ist aber nun wirklich keinem geholfen. Also rauft man sich wieder zusammen und etabliert die Pluralität gemeinsam auf der widerstandslosen Seite des Kunstwerks: die Vielansichtigkeit ist geboren und jeder kann sich mit seiner Meinung in relativer Sicherheit wähnen.

Ansichten eines Kunstwerks kann es nun wirklich mehrere geben - als Garanten dafür stehen schließlich die Künstler, die die Kunstwerke erst in die Welt setzen. Michelangelo ging bei der Skulptur noch von nur einer Haupt- und einer Nebenansicht aus. Die unbestrittene Autorität auf diesem Gebiet dagegen, der Bildhauer Benvenuto Cellini, behauptete anlässlich einer Meinungsumfrage unter Künstlern über das Problem, ob die Malerei oder die Bildhauerkunst die höher zu bewertende Kunstgattung sei, in einem Brief vom 28.Juni 1546 an Benedetto Varchi, der diese Umfrage durchgeführt hatte, daß die Skulptur die siebenmal größere Kunst sei, da eine Skulptur acht Ansichten (vedute) habe, also sieben mehr als ein Bild oder ein Relief.[5] Später korrigierte er sich und stellte fest, daß es bei der Skulptur, genauer betrachtet, doch wohl mehr als vierzig sein dürften.[6] Wenn also schon die Künstler dem Kunstwerk mehrere, unterschiedliche Ansichten bescheinigen, dann ist tatsächlich dem Relativismus in der Kunstbetrachtung - Gottsucherbanden werden das nicht begrüßen - Tür und Tor geöffnet. Der 'Dialog mit dem Kunstwerk' wird daher, je nach Standort des Betrachters, unterschiedlich geführt.

Mögliche Standorte gibt es viele[7], faktische wie ideologische. Kommen bei der Kunstbetrachtung auch noch Kombinationen und unterschiedliche Gewichtungen der Ansichten hinzu, ist klar, daß, ausgehend von verschiedenen Grundannahmen, unterschiedliche Aussagen entstehen können. Der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin hat in seinem Aufsatz Über Abbildungen und Deutungen[8] vorgeführt, wie sich durch die photografische Auswahl einer bestimmten Skulpturenansicht Interpretationen vorstrukturieren, wenn im Weiteren nur mit diesen Abbildungen gearbeitet wird. Wölfflin kommt in seinem Aufsatz nicht zu dem komplexen Phänomen, warum bei gleichen Abbildungen unterschiedliche Interpretationen entstehen, ihm geht es, das alte Problem der Anschauung auf der Ebene der Abbildung letztlich nur wiederholend, ganz antipluralistisch und - man muß es so sagen - besserwisserisch um die Frage nach der richtigen Abbildung.

Vordergründig scheint dieses Vorgehen zunächst gesprächstaktisch sinnvoll, denn am maschinellen Abbildungsmechanismus des photographischen Apparats kann stellvertretend, auf neutralem Boden, das eigentliche Problem der korrekten menschlichen Wahrnehmung[9] und damit erneut das des richtigen oder, in einer schwächeren Form, das des besseren Standortes verhandelt werden. Lässt man diesen Ansatz zu und setzt man mit Wölfflin weiter voraus, daß Ansichtigkeit[10] überhaupt eine Eigenschaft des Objektes ist und nicht nur eine Annahme des Betrachters, dann lassen sich auf seiten einer Skulptur durch formale Eigenschaften wie Aufstellungsort, Bezug zum Sockel, unbearbeitete Rückseiten oder auch durch sprachliche Anweisungen des Künstlers, Begründungen für bestimmte Positionen finden.

Um dem Einwand zu begegnen, das Problem der richtigen Ansicht sei ein spezifisches der Skulptur, muß hier darauf hingewiesen werden, daß es sich bei einem Bild oder einem Relief in ähnlicher Form wiederholt. Da ist zunächst die Frage nach der Entfernung des Betrachters vom Bild, die besonders nach der Erfindung der Perspektive[11] virulent wird. Der Monforte-Altar von Hugo van der Goes beispielsweise erfordert durch perspektivisch bedingte Verzerrungen einen genau bestimmten Abstand vom Bild. Der Augenpunkt, d.h. der Fluchtpunkt der perspektivischen Konstruktion, befindet sich bei diesem Bild betrachterfreundlich in der Mitte. Dagegen liegt bei dem Relief der so genannten Pazzi-Madonna von Donatello, das ursprünglich als Supraporte montiert war, der Augenpunkt weit unterhalb des unteren Rahmens. Bei der augenblicklichen Aufstellung des Reliefs in der Skulpturengalerie der Staatlichen Museen in Berlin-Dahlem ist eine adäquate Betrachtung im Sinne Wölfflins nur möglich, wenn man sich auf den Boden legt. Dieses zumindest ungewöhnliche Verhalten hat nach Wölfflin auch Erwin Panofsky thematisiert, indem er schrieb, man müsse sich fragen, "ob die perspektivische Anlage des Gemäldes sich nach dem tatsächlichen Standpunkt des Betrachters zu richten habe (wie ganz besonders bei der 'illusionistischen Deckenmalerei'...) - oder ob umgekehrt der Betrachter sich ideel auf die perspektivische Anlage der Gemälde einstellen müsse."[12] Da die vorhandenen Bilder den bestechenden Zwang des Faktischen ausüben, werden wir diese rhetorische Frage dadurch beantworten, daß wir uns mit dem anamorphotischen Charakter eines jeden Bildes abfinden.

Der Ansatz Wölfflins liefert uns eine ganze Reihe von Argumenten für oder gegen einen bestimmten Standpunkt, führt aber aus der Abhängigkeit von der Anschauung nicht hinaus. Hinzu kommt die Abhängigkeit von Rahmenbedingungen wie es die Beleuchtung eine ist.[13] Je nach Art des Lichtes und seiner Intensität erscheinen Farben unterschiedlich und variieren den vordergründig objektiven Bestand des Bildes[14], und dieses Problem teilt die Malerei schließlich wieder mit der Skulptur, da man durch mehr oder weniger dramatische Schatten den Eindruck einer Skulptur ganz erheblich verändern kann.

Gattungsspezifische Unterschiede zugestanden, bleibt jeweils die Frage nach dem objektiven Bestand des Kunstwerks und damit die Frage nach der richtigen Ansicht als Bedingung der Möglichkeit der richtigen Anschauung. Nachdem nun aber hinreichend auf die Wirklichkeit der Bedingungen der Ansichtigkeit hingewiesen wurde, bleibt in Erweiterung des anfänglichen Zitats von Fiedler zu fragen, ob denn überhaupt die Anschauung irgendwo aufhört. Ob also - andersherum - irgendwo die Kunst anfängt, und wenn ja, wer oder was denn eigentlich im 'Dialog mit dem Kunstwerk' unser Gesprächspartner ist.

Eine erste These versuche ich mit dem Hinweis auf eine weitere Bedingung unserer Anschauung, nämlich auf die Abhängigkeit von der Geschichte unseres 'Dialogs mit dem Kunstwerk'. Unabhängig von der Frage, ob der Bestand eines Kunstwerks als objektive Tatsache auszumachen ist oder nur in der Annahme eines transzendentalen 'Kunstwerks an sich' existiert, behaupte ich: Der 'Dialog mit dem Kunstwerk' ist vor allem eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Frage nach diesem Dialog - vielleicht sogar die Antwort darauf -, auf jeden Fall aber die Fortsetzung eines ohnehin schon existierenden kunsttheoretischen Gesprächs über die Bedingungen eben dieses Dialogs.

Die erste Konsequenz dieser These, die auf die Existenz eines materialen Kunstwerks und damit auf Ansichtigkeit verzichten könnte, ist die Gleichsetzung des Produzenten mit dem Rezipienten. Künstler wie Kritiker sind gleichberechtigte Teilnehmer an einem Kolloquium zur Kunst mit wechselnder Gesprächsleitung.

Das ist schon von Oskar Wilde so gesehen worden. Seinen Essay zu diesem Thema, Der Kritiker als Künstler[15], hat er deshalb folgerichtig in Dialogform abgefasst. Die zwei Personen dieses Gesprächs heißen Gilbert und Ernest, und es ist unschwer zu erkennen, daß Gilbert die Position Wildes vertritt. Gilbert eröffnet die Diskussion mit der disqualifizierenden Frage: "Worüber lachst du, Ernest". In der gedoppelten Verkehrung der Positionen, die sich durch das Selbstzitat seines Wortspiels im Titel der Komödie The Importance of Being Earnest ergeben, steckt eine erste ironische Provokation.[16] Wilde führt seinen fiktiven Gesprächspartner als einen unreflektierten und widersprüchlichen Kunstliebhaber ein, der um der hehren Kunst Willen ernsthaft an der Unterscheidung von Künstler und Kunstkritiker festhält. "Du bist ganz entzückend, Ernest, aber deine Ansichten sind einfach falsch"[17] urteilt Gilbert. Diese Äußerung fällt, nachdem Ernest die griechische Kunst idealisiert und die Qualität der antiken Skulptur - mehr wünschend als wissend - aus seiner kunsthistorischen These hergeleitet hat, daß es bei den Griechen keine Kunstkritiker gegeben habe: "Und niemand kam, den Künstler bei seinem Werk zu stören. Kein unverantwortliches Geschwätz verwirrte ihn. Er wurde nicht durch Meinungen belästigt." Dem widerspricht Gilbert gleich durch die konsequent diametrale Übertreibung: "Die Griechen waren ein Volk von Kunstkritikern."[18]

Wilde versucht dann, diesen Streit auf den Punkt zu bringen: "Der Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Leistung ist nur in der äußeren Form vorhanden. Er ist nebensächlich, nicht wesentlich. Jede künstlerische Schöpfung ist absolut subjektiv."[19] Das meint nicht die Unverbindlichkeit, sondern die notwendige und alleinige Erscheinungsform von Kunst als Anschauung, als individuelle Äußerung innerhalb eines durch seine Geschichte verbindlichen Rahmens von bereits bekannten Theorien zum 'Dialog mit der Kunst'. Wilde leugnet noch nicht die Notwendigkeit einer im weitesten Sinne objekthaften Vorlage, aber er bestreitet, daß dadurch Kunst unabhängig vom Subjekt, und spezieller, unabhängig vom Kunstkritiker existiert. Die Qualität der antiken Kunst liege nicht in ihrem Bestand, sondern in ihrer Theorie, nicht in der antiken, sondern in jeweils der des Kritikers oder Künstlers, der die Tradition der Kunstkritik fortsetze.

Tom Wolfe hat, weitergehend als Oskar Wilde, nicht nur die Qualität von Kunst in Abhängigkeit vom Kunstkritiker gesehen, er bindet sogar die Möglichkeit, Kunst als solche überhaupt wahrzunehmen, an die Existenz einer Theorie: "Kurz gesagt, ganz ehrlich, heutzutage kann ich ohne begleitende Theorie ein Gemälde gar nicht erst sehen."[20] Wolfe prophezeite daher, daß eine retrospektive Kunstausstellung im Jahr 2000 nicht die heute anerkannten Künstler ausstellen wird, sondern die Kritiker, die die Kunst des 20.Jahrhunderts erst ermöglicht haben.[21] Tom Wolfes Schnelldurchlauf durch die Geschichte der amerikanischen Kunst von 1945 bis 1975 schließt mit den Arbeiten von Lawrence Weiner. Bei diesem Künstler finde endlich die Kunst ihre Rettung vor den inneren Widersprüchen der Ansichtigkeit durch eine materiale Existenz. Sie verzichte auf jede Form der Ausführung und beginne mit der Metamorphose zur Kunsttheorie. Sprache sei das eigentliche Material der Kunst.

Diese Konzeptualisierung des Kunstwerks, auf die die traditionelle Kunsttheorie zunächst mit der Diskussion über den Verlust des Werkcharakters symptomatisch reagierte, hat als Prozess in der klassischen Moderne begonnen. Nimmt man das Höllentor von Auguste Rodin als Tür zur Kunst des 20.Jahrhunderts, so wird der Kunstbetrachter bereits hier aufgefordert, alle Hoffnung auf Beibehaltung des Begriffs vom authentischen Kunstwerk aufzugeben. Oben an dem Höllentor, an einer Stelle, die bei Portalen traditionellerweise Wappen und anderen Hoheitszeichen vorbehalten ist, die den Hindurchtretenden also auf neue Herrschaftsbereiche vorbereitet, befindet sich eine Gruppe von drei Jünglingen. Der Witz dabei ist, daß es sich immer um die gleiche Figur handelt. Unserer Anschauung bieten sich daher gleichzeitig immer mehrere Ansichten einer Figur, womit Rodin vorausweisend ein Problem aufgeworfen hat, dem sich der Kubismus nur wenig später intensiv widmete[22] und das zum beherrschenden Thema des 20.Jahrhunderts wurde: eben das Verhältnis von Ansicht und Anschauung.

Ausgehend vom Kubismus führt eine ausweichende Diskussionslinie über den Futurismus zum Film. Man umging so das Problem der gleichzeitigen Mehransichtigkeit durch eine Auffächerung in der Zeit. Zurück zum eigentlichen Problem fand Marcel Duchamp in den Vorarbeiten für Das große Glas mit dem Schokoladenzerreiber: "Durch die Einführung einer strengen Perspektive und die sehr geometrische Formgebung einer eindeutigen Reibmaschine wie diese hier, fühlte ich mich endgültig befreit von der kubistischen Zwangsjacke."[23] Der Schokoladenzerreiber, das Herzstück der 'Junggesellenmaschine', besteht aus drei identischen, 'männlichen' Walzen, die sich um eine gemeinsame Achse drehen und dabei aus dem Stoff der Kunstgeschichte ihren Geist herauspressen.[24] Offensichtlich hat Duchamp hier das Motiv der drei Jünglinge von Rodins Höllentor adaptiert und damit eine vorkubistische Version der Vielansichtigkeit aufgegriffen.[25]

Ein weiteres Argument für Duchamps anhaltendes Interesse an der Mehransichtigkeit ist sein Selbstporträt mit zwei Spiegeln, die so angeordnet sind, daß die Photographie gleichzeitig fünf Ansichten Duchamps festhält.[26] Da Selbstporträts immer auch als Äußerung zum künstlerischen Selbstverständnis zu gelten haben, zeigt sich hier eindeutig die Anschauung des Kunsttheoretikers Duchamp: Bitte keine 'retinale' Produktion, Kunst ist ein Expertengespräch am runden Tisch, das bei Ermangelung kompetenter Partner notfalls immer noch als Selbstgespräch stattfinden kann!

Nachdem nun dem Kunstwerk das Mitspracherecht in der Diskussion der Kunstkritiker fast zur Gänze abgeschnitten ist, sollten wir uns vergewissern, wie sie darauf reagieren. Befragen wir also ein oder zwei repräsentative Kunstwerke.





Da gibt es diese Arbeit von Thomas Kapielski[27]: Auf einem Sockel aus Pressspanplatten, der in seinen Proportionen ungefähr einer Hälfte des World-Trade-Center entspricht, steht ein Tischmikrophonhalter, der statt Mikrophon zwei 'Q-Tips'[28] hält. Schon allein dieser Bestand lässt den erfahrenen Kunstdiskutanten hellhörig werden. Ein Tischmikrophonhalter ist ein unentbehrliches Requisit für Podiumsgespräche[29], und der eifrige, vorbeugende Gebrauch von 'Q-Tips' gewährleistet dabei den optimalen Empfang. Wir ahnen einen durchaus substantiellen, kritischen Beitrag seitens des Kunstwerks, denn die beiden 'Q-Tips', die bei unsachgemäßer Handhabung auch zu Ohrstöpseln werden können, und der Mikrophonständer ohne Mikrophon produzieren in ihrer direkten Kopplung das Tableau einer kollabierten Kommunikation. Der faktische Bestand der Arbeit Kapielskis ist aber noch nicht erschöpfend beschrieben, denn: auf der einen Seite des Sockels, die, ein Mikrophon dazugedacht, die Seite des Sprechers wäre, klebt ein Pappschild mit der Beschriftung "THOMAS KAPIELSKI 'Anführungsstrichelchen-oben-Objekt', 87" und von hier aus auf der linken Seite des Sockels ein gleiches Schild mit der Beschriftung "THOMAS KAPIELSKI 'Luftbrücke', 88". Das irritiert. Könnte die Annahme, das Kunstwerk habe nun mal zwei Titel, noch kurzfristig aus der Krise einer eindeutigen Befundsicherung heraushelfen, so ist die Angabe von unterschiedlichen Entstehungsjahren ein zwingender Hinweis darauf, daß hier doch wohl von mehreren Befunden zu sprechen ist.



Nun, Eindeutigkeit ist der Kunst immer nur von inkompetenter Seite unterstellt worden. Mehrdeutigkeit, Fülle der möglichen Inhalte und Komplexität bis zur Überdetermination sind schon eher die Voraussetzungen für den Kunstdialog. Aber - und darin besteht der entscheidende Hinweis dieser Arbeit von Kapielski - um den wie auch immer zerfaserten und widersprüchlichen Interpretationsprozess um Ein- oder Mehrdeutigkeiten überhaupt zu gewährleisten, wurde bisher immer - conditio sine qua non - die Identität des Kunstwerks vorausgesetzt. Ein Streit um Ansichten, Anschauungen und richtige Perspektiven lohnt überhaupt nicht, wenn von vornherein klar ist, daß der Konsens über ein Kunstwerk wegen der Nichtidentität des Objekts unmöglich ist.

Was macht man jetzt aber mit einem Kunstwerk, das nach einer ersten Befragung sofort seine schizophrene Doppelidentität behauptet? Und weiter, ist diese Frage nicht schon falsch gestellt, als Wertung eines vorschnell identifizierenden Blicks auf die Dinge?

Man könnte abwehren und schottisch argumentieren mit der These, daß sich hier zwei Kunstwerke aus ökonomischen Gründen die aufwendige 'Hardware' teilen und die Präsentationspflichten durch eine Art 'Jobsharing' bewältigen. Doch das wäre eine Kompensation von Defiziten bei der eigenen Identitätsfindung mittels des schnöden Verweises auf die fehlenden materiellen Mittel. Der Frage nach der problematischen Identität des Kunstwerks werden wir uns stellen müssen. Vielleicht war es tatsächlich etwas übereilt von Theodor W. Adorno, zu diagnostizieren: "Von sich aus will jedes Kunstwerk die Identität mit sich selbst, die in der empirischen Wirklichkeit gewalttätig allen Gegenständen als die mit dem Subjekt aufgezwungen und dadurch versäumt wird."[30] Auch Adornos gern geglaubte Beteuerung, daß mit Grund das Versöhnende der Kunstwerke in ihrer Einheit aufgesucht werden könne[31], verliert durch Kapielskis Arbeit an Glaubwürdigkeit. 'Zunächst!' hätte daraufhin Adorno ausgerufen, denn: "Dass der Geist der Kunstwerke nicht einfach ihrem immanenten Zusammenhang, der Komplexion ihrer sinnlichen Momente, gleichzusetzen sei, bestätigt sich daran, daß sie keineswegs jene in sich bruchlose Einheit, jene Art von Gestalt bilden, zu welcher die ästhetische Reflexion sie zurechtstilisiert."[32] Versuchen wir also, dem Geist des Kunstwerks - oder der Kunstwerke - von Kapielski zu folgen, ohne sie - oder es - übereilt zu identifizieren. Fragen wir erneut nach den Ansichten des Kunstwerks.

Die Titelschilder am Sockel betonen zwei Ansichten. Die Ausrichtung des Mikrophonständers gewichtet diese beiden in eine Haupt- und eine Nebenansicht. Wir wollen im weiteren, da wir dieses Kunstwerk bereits als Gesprächspartner akzeptiert haben, von einer Ansicht en face und einer Ansicht im Profil reden, wobei wir uns zunächst dem Profil zuwenden werden.

Der Titel Luftbrücke reklamiert die formale Ähnlichkeit mit dem Luftbrückendenkmal von Eduard Ludwig vor dem Tempelhofer Flughafen in Berlin. Das Denkmal wurde 1951 eingeweiht und erinnert an die Blockade der Stadt Berlin, deren Einwohner vom 26.06.48 bis zum 30.09.49 aus der Luft versorgt wurden. Die Berliner nennen es daher die 'Hungerkralle'. Das Tempelhofer Flugfeld war Start- und Landeplatz der berühmten 'Rosinenbomber', mit denen die Verbindung zu den westlichen Besatzungszonen aufrechterhalten wurde. Das Denkmal symbolisiert vor dem Eingang zum Tempelhofer Flughafen die drei Luftkorridore der Alliierten. Eine circa zwanzig Meter hohe Betonplatte, die sich nach oben verbreitert und in drei 'Fingern' ausläuft, biegt sich, zunächst senkrecht aufsteigend, langsam nach Westen. Nehmen wir das Stichwort auf, geht es also bei dieser Ansicht um die verkleinerte Abbildung eines Denkmals, das selbst etwas Unsichtbares darstellt: eine vorgefundene Metapher. Das Denkmal ist die materielle Umsetzung einer Vorstellung von 'Luftbrücke' und propagiert mnemotechnisch als Eselsbrückenkopf ein geschichtliches Ereignis.

Mit dieser Vorüberlegung sind wir hinreichend darauf vorbereitet, dem Anführungsstrichelchen-oben-Objekt vis-à-vis gegenüberzutreten. Anführungszeichen stehen in einem Text vor und hinter wörtlich angeführter Rede. Die umgangssprachlich auch Gänsefüßchen genannten Satzzeichen lassen sich, unter Verwendung eines kunsthistorischen Terminus, als 'ästhetische Grenze' definieren, die innerhalb der Linearität eines Textes durch einen Anfang (Anführungsstrichelchen-unten) und ein Ende (Anführungsstrichelchen-oben) einen qualitativ anderen Text, wie z.B. ein Zitat, markieren. Man könnte nun das Anführungsstrichelchen-oben-Objekt, mit einem Blick um die Ecke, wieder als Denkmal interpretieren. Es wäre verwendbar als Modell für ein 'Grabmal des unbekannten Simultanübersetzters' oder auch als 'Mahnmal für die Opfer der abgerissenen Sprechfunkverbindung'. In jedem Fall aber ginge es um das Ende der wörtlichen Rede, um den Kollaps von Kommunikation.

Bei solchen Themen wird immer wieder, im Rhythmus der Saure-Gurken-Zeit[33], von konservativen Kulturkritikern das Argument der Verflachung, der Entleerung bis zum Kalauer[34], also das Argument vom Ende der Kunst ins Feld geführt. Aber kaum einer ginge so leichtfertig mit dieser Behauptung um, wenn es tatsächlich so wäre. Wie schon oben gezeigt, ist Kunst heute vor allem ein Expertengespräch, und deshalb ist die Rede vom Ende der Kunst nur eine häufig von außenstehenden Zuhörern eingeworfene Anmerkung, der wahrscheinlich nichts anderes als der Wunsch nach einer Zigarettenpause unterliegt.

Viel ernster als solche Einwürfe, die meist noch mit dem moralischen Hinweis auf angeblich ernstere, substantielle Kunstwerke begleitet sind, sollte man dagegen das Anführungsstrichelchen-oben-Objekt nehmen. Es signalisiert, vielleicht stellvertretend für alle aufgeklärten Kunstwerke, daß weitere für die Diskussion über Kunst wichtige Beiträge von seiten der Kunstwerke nicht mehr zu erwarten sind. Ihre aktive Beteiligung am Gespräch ist auch - unter uns gesagt - nicht mehr nötig. Der Gedankenaustausch zwischen Künstler und Kritiker verspricht, um es vorsichtig zu äußern, zumindest vorläufig die interessanteren Ergebnisse. Die Depots der Museen und Sammler quellen über, der Kunstmarkt berichtet desorientiert von Sinnkrisen und Preiseinbrüchen, die Flut der Ausstellungen stellt ständig neue Bezüge her - da ist es nicht verwunderlich, wenn die Kunstwerke einsehen, daß jedes weitere erst einmal so überflüssig ist, wie die Erfindung eines dreidimensionalen Schachspiels.

Eine gewisse Berechtigung haben noch die Kunstwerke, die auf diese Situation hinweisen, und dazu gehört mit Sicherheit das Anführungsstrichelchen-oben-Objekt [35]. Es tautologisiert sich selbst als Umsetzung eines diakritischen Textzeichens und unterläuft dadurch Bedeutungsstrategien, die außerhalb von Sprache letztlich nicht existieren. Als Schlusszeichen zur Form des Zitierens innerhalb der 'Sprache des Kunstwerks', wie es die dichotomisch benachbarte Luftbrücke noch vorführt, stellt das Anführungsstrichelchen-oben-Objekt die Forderung auf, zum Haupttext zurückzukehren, und der besteht nun einmal aus dem Gespräch zwischen Kritikern und Künstlern.[36]

Im konkreten Fall ist es das Gespräch zwischen mir und Thomas Kapielski. Wir nehmen das Anführungsstrichelchen-oben-Objekt sehr ernst und deshalb war ich nicht überrascht, nach dem Kauf seiner Edition Zum Hafthaken [37] in einem Schuhkarton folgenden Text zu finden: "Angenehme Idee eines arbeitsscheuen aber aufgeweckten Künstlers (Kapielski): Nur ein (1) Kunstzwerg herstellen. Es ist dann auch ziemlich egal was es ist. Und ab da nur noch gedankliche, konnotative Mühe aufbringen müssen. (Zum Beispiel um den Preis einer schlichten, aber lebenslänglichen Leibrente.) Oben genannter Künstler verpflichtet sich alle Vierteljahre ein Couvert zu übergeben. Dazu ist der Besitzer des Objektes (Kunstwerk) auf eine kleine Feier verpflichtet, Bier usw. Im Couvert steckt ein Zettel, auf dem der neue Titel für das Dingens steht. (Ich hab es mit Heinz-Werner Lawo schon angefangen, da hieß das erste 'Anführungsstrichelchen-oben-Objekt', dann 'Luftbrücke', jetzt 'Aufrechter Stuhlgang' (davon weiß er nichts, wir kriegen es mit der Leibrente auch nicht ganz hin, Kunststück, er sucht sogar ne bescheidene Wohnung, übrigens ER, nicht ich armer Scheißer!)". Auch ohne vertraglich geregelte Leibrente zu zahlen, habe ich nun von dem neuen Titel erfahren und bin seitdem im Zugzwang.[38] Dieser Text ist deshalb nicht nur eine Antwort auf Kapielskis Diskussionsbeitrag, sondern auch der Vorschlag zu einem Kompensationsgeschäft.

Der Titel Aufrechter Stuhlgang stellt gleich einen ganzen Haufen von neuen Bezügen her. Zunächst setzt Kapielski damit die Reihe der bereits produzierten Künstlerscheiße fort, die durch Piero Manzoni begonnen und über verschiedene Steigerungsformen durch Dieter Rot zu einem vorläufigen Höhepunkt gebracht wurde. Dann aber wird die Frage nach der Kunstgeschichte und ihrer Überbietung gekoppelt mit der Forderung von Ernst Bloch, wir hätten den aufrechten Gang zu üben. "Krummes will gerade werden"[39] bescheinigt Bloch dem verantwortungsbewussten Subjekt auf der Grundlage einer zu erfüllenden geschichtlichen Notwendigkeit. Dem folgsamen und aufrechten oder sich gerade aufrichtenden Künstler ist es aber dadurch letztlich unmöglich, sich mit einem 'merderialen' Kunstwerk zu entäußern. Dafür müsste er wieder in eine gebückte Hocke gehen, was einer symbolischen Unterwerfung unter Marktinteressen gleichkäme und nur Erwartungshaltungen hofierte, die passiv auf Erbauung hoffen.[40]

Es gilt daher - als aufrechter Kritiker - dem anderen die Erniedrigung zu ersparen und gemeinsam im 'Gespräch als Kunst' die Mimesis der 'Sprache des Kunstwerks' fortzusetzen, denn nach Adorno - und hier hat er wieder einmal Recht - ist das von der Kunst geforderte ästhetische Verhalten "weder Mimesis unmittelbar noch die verdrängte sondern der Prozess, den sie entbindet und in dem sie modifiziert sich erhält."[41]

Dieser Prozess geht mit unabsehbaren Konsequenzen weiter. Daher ist auch dieser Text kein Schlussplädoyer, sondern der Eintritt in die Beweisaufnahme. Liebhabern der schönen Künste wird das den Schauer über den Rücken jagen, doch zu ihrem Trost sei ihnen gesagt: genau das ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Als Hilfestellung sei ihnen eine weitere Arbeit von Thomas Kapielski aus dem Jahr 1985 zur Kritik empfohlen. Sie stammt aus der Reihe Weltschmerz und heißt Gänsehaut.[42] Kapielski paraphrasiert damit, nach Rückfrage nicht bewusst, eine der Formulierung Adornos, mit der er seine Ästhetischen Theorie schließt: "Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild."[43]


Heinz-Werner Lawo

In: mdu - Mitteilungen der Unterlagenforschung, Heft 1, Berlin 1992, S.15-21





[1] Aus dem Hörspiel Gleitzeit & Hirschmedaillon von Thomas Kapielski, erschienen auf der Kassette 2 Ohrstäbchen (Q-tips), Wiens Laden & Verlag, Berlin 1991.
[2] "Man muss einsehen, dass wir aus dem Gegenstand einen Gesprächspartner gemacht haben, und dass wir mit dem Gegenstand ein wenig in der Art sprechen, wie wir es mit unserem Hund tun." Jean Dypr‚ aus: Das Ding in der aktuellen Kunst. In: Metamorphose des Dings (Kat.). Berlin 1971, S.104-152, hier S.152.
[3] Konrad Fiedler: Schriften zur Kunst. Hrsg. Gottfried Boehm, München 1991, 2.Aufl., Bd.1, S.172.
[4] Konrad Fiedler, a.a.O., Bd.2, S.38f.
[5] Vgl.: Künstlerbriefe über Kunst. Hrsg. Hermann Uhde-Bernays, Dresden 1957, 3.Aufl., S.72-75.
[6] Benvenuto Cellini: Due Trattati. Florenz 1568. Deutsche Übersetzung von Justus Brinckmann, Leipzig 1867.
[7] Als grundlegende Untersuchung zu diesem Thema vgl. Lars Olaf Larsson: Von allen Seiten gleich schön. Studien zum Begriff der Vielansichtigkeit in der europäischen Plastik von der Renaissance bis zum Klassizismus. Upsalla 1974.
[8] Heinrich Wölfflin: Gedanken zur Kunstgeschichte. Basel 1941, S.66-82.
[9] Hierzu der Aufsatz von Heinrich Wölfflin: Wie man Skulptur aufnehmen soll. In: Zeitschrift für Bildende Kunst. 7, 1896, S.224-228.
[10] Der in unserem Zusammenhang verwandte Begriff der Anschaulichkeit ist eine Erfindung des späten 18.Jahrhunderts und kommt zuerst bei Herder vor. Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, Leipzig 1943, 11.Aufl., S.19.
[11] Albrecht Dürer, dessen Underweysung der Messung von 1525 für den deutschen Sprachraum die erste theoretische Untersuchung der Perspektive darstellt, schreibt in seinen Entwürfen für dieses Werk unter dem Titel Perspectiva naturalis nach Euklid zu einer Zeit, in der die Begriffe Gesicht, Angesicht und Ansicht noch nahe beieinander liegen: "Die ander (zweite) Supositz: Item allein die Dinge siech man, do das Gesicht hinkummt oder mag. Die dritte Supositz: Item do das Gesicht nit hinkummt, das siech man nit." Hier zitiert nach: Albrecht Dürer: Schriften und Briefe. Hrsg. Ernst Ullmann, Leipzig 1978, S.238f.
[12] Erwin Panofsky: Die Perspektive als 'symbolische Form'. In: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1964, S.123ff.
[13] Jeder kennt das Problem, einen Standort für die Betrachtung von Bildern zu finden, wenn der Firnis eines Ölbildes extrem reflektiert.
[14] Selbst Josef Albers, der sich in seiner Reihenuntersuchung Interaction of Color (New Haven 1963) intensiv mit dem Verhältnis der Farben untereinander beschäftigte, hat dieses Problem unterschätzt. Zumindest konnte ich bei der im Lesesaal einer Bibliothek vorhandenen Beleuchtung (ausleihbar ist das sehr teure Buch leider nicht) nicht alle Effekte nachvollziehen, die Albers mit den Farbtafeln im Buch vorführen wollte. Da Farben auf die Lichtbedingungen unterschiedlich reagieren, hätte Albers sinnvollerweise die Art des Lichts und dessen Intensität mit angeben müssen.
[15] Oscar Wilde: Sämtliche Werke. Hrsg. Norbert Koch, Frankfurt a.M. 1982, Bd.7, S.69-148. Es ist mir unverständlich, warum dieser Text nicht schon lange Eingang in die Diskussion über das Verhältnis von Künstler und Kritiker gefunden hat. Unter der humoristischen Oberfläche befinden sich einige hochbrisante Thesen. Der Essay gehört sicherlich zu den wichtigsten kunsttheoretischen Texten des 19.Jahrhunderts. Er erschien zuerst unter dem Titel: The True Function and Value of Criticism; with some Remarks on the Importance of Doing Nothing: a Dialogue. In: Nineteenth Century, XXVIII, Nr.161, 1890, S.123-147 und Nineteenth Century, XXVIII, Nr.163, 1890, S.435-459.
[16] Man kann gar nicht anders, als hier ständig an Schillers Einteilung "Ernst ist das Leben, heiter die Kunst" zu denken.
[17] Wilde: a.a.O., S.78f.; an der gleichen Stelle auch die beiden folgenden Zitate.
[18] Die Deutschen sind gerade mal so weit, 'ein Volk' zu sein.
[19] Wilde: a.a.O., S.126.
[20] "In short: frankly, these days, without a theory to go with it, I can't see a painting." Tom Wolfe: The Painted Word. New York 1976, S.4. Eine deutsche (schlechte) Übersetzung von Sonja Hauser ist kürzlich bei Knaur erschienen: Worte in Farbe. Kunst und Kult in Amerika. München 1992.
[21] Wolfe, a.a.O.: S.118f.
[22] Carl Einstein hat unter ähnlicher Zielsetzung - ihm geht es an diesem Ort um die Anschauung des Raumes - zurecht darauf hingewiesen, dass der Kubismus konsequent die Entwicklung der europäischen Skulptur fortführte, da die Skulptur selbst zu einem malerischen Problem geworden sei, zu einem Problem der malerischen Oberflächenansicht. Carl Einstein: Negerplastik. In: ders.: Werke. Bd.1, Hrsg. Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny, Berlin 1980, S.245-263.
[23] Marcel Duchamp: Die Schriften. Bd.1, Hrsg. Serge Stauffer, Zürich 1981, S.245.
[24] Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz über Fritz Balthaus in: Fritz Balthaus (Kat.). Hrsg. Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1991/92.
[25] Zum Schokoladenzerreiber vgl. Marcel Duchamp: Die Schriften. a.a.O., S.71 und S.115. Stauffer berichtet, dass die Schokoladenreibe, die Duchamp in einem Schaufenster gesehen hat und die ihn angeregte, nur zwei Walzen besaß!
[26] Abgebildet u.a. auf der Umschlagrückseite von Henri Pierre Roché: Victor. München 1986; zusammen mit den gleichartigen Porträts von Henri Pierre Roché und Francis Picabia. Die 1917 in New York entstandenen Aufnahmen gelten bis jetzt nicht als 'Werke', was bei der offensichtlichen Gemeinschaftsaktion der drei Freunde sicher eine Fehleinschätzung ist. Serge Stauffer vermutet, dass die Aufnahmen bei einem gemeinsamen Ausflug nach Coney Island entstanden sind. Vgl.: Serge Stauffer: Marcel Duchamp in Polen. Die Papierek lakmusowy von S. I. Witkiewicz, 1921. In: Sondern 7, Hrsg. von Dieter Schwarz, Zürich 1986, o.P. Stauffer untersucht hier mögliche Verbindungen zu dem gleichartigen Selbstbildnis des polnischen Künstlers Stanislaw Ignacy Witkiewicz, das zwischen 1914 und 1917 in Petersburg entstanden ist. Den Spekulationen in dieser Hinsicht wurde neue Nahrung gegeben durch die dankenswerte Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Photographie von Adib Fricke und Joachim Schmid. Sie entdeckten, dass es auch von Hannah Höch ein derartiges Selbstporträt gibt. Veröffentlicht wurde es in: Meisterwerke der Fotokunst - Die Sammlung Fricke und Schmid, Berlin 1989, erschienen in der Edition Fricke & Schmid in einer Auflage von 20+V Exemplaren (hier auf 1917 datiert und fälschlich als "Fotomontage" bezeichnet). Leider ist das Original-Foto beim Produktionsprozess der Edition verschollen.
Hannah Höch, 1917

[27] Die Arbeit steht links vor meinem Schreibtisch. Besuchszeiten nach Vereinbarung.
[28] Im Original sind es tatsächlich 'Q-Tips', also nicht einfach nur Ohrreinigungsstäbchen. Bei 'Q-Tips' liegt die seltene Identität von Produkt und Marke, bzw. von Entität und Name vor, wie sie auch bei 'Tempo' statt Papiertaschentuch, 'ATA' statt Scheuerpulver oder 'Oro-Pax' statt Gehörschutz vorliegt. Die Etymologie von 'Q-Tips' müsste genauer untersucht werden. Im Englischen existieren mehrere Redewendungen, in denen das Wort 'tip' vorkommt und die sich, auffallend genug, immer um Kommunikation drehen; z.B.: I have it on the tip of my tongue (es liegt mir auf der Zunge); to tip someone the wink (jemandem ein Zeichen geben). Auch die Bedeutung 'tip' (Trinkgeld) als Anerkennungsstruktur scheint mir wichtig. 'Q' (engl. gesprochen kju), wenn es sich nicht von 'ouate' (frz. Watte) herleitet, ist mir etymologisch unklar. Über die Aussprache ergibt sich aber eine Verbindung zu 'cue' (engl.: Stichwort, Hinweis, Vorschlag, auch Denkweise oder Denkart): to take one's cue from someone (sich von jemandem anregen lassen, sich nach ihm richten). 'Q-Tip' könnte also als 'Hinweis-Hinweis' gedeutet werden.
[29] Man beachte demnächst bei einem Symposion zur Kunst, ob durch ein Podium eine Aufsockelung der Diskussion stattfindet und welche Konsequenzen bei unterlassener Unterlassung darin liegen. Es sei hier nur an die Selbstausstellung von Timm Ulrichs oder die Living Sculptures Gilbert & George erinnert.
[30] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1970, S.14.
[31] Adorno: a.a.O., S.202.
[32] Adorno: a.a.O., S.138.
[33] Vgl. hierzu die Vor-Ort-Untersuchung durch Thomas Kapielski: Fiese Entwicklungen im berliner Bierpreiswesen. In: ders.: Einfaltspinsel=Ausfallspinsel. Berlin/Lütjensee 1986/87.
[34] Gegen den abqualifizierenden Vorwurf des Kalauers hat sich schon Samuel Beckett gewandt: "Von Murphys zahllosen Klassifizierungen der Erfahrung war die Unterscheidung zwischen Witzen, die einmal gute Witze gewesen waren, und Witzen, die nie gute Witze gewesen waren, nicht die unbedeutendste. Was, außer einem mangelnden Sinn für Humor, hätte das Chaos so verpfuschen können. Im Anfang war der Kalauer." Samuel Beckett: Murphy. Hamburg 1959, S.40.
[35] Hierzu Adorno: "Archaisch sind Kunstwerke im Zeitalter des Verstummens. Aber wenn sie nicht mehr sprechen, spricht ihr Verstummen.", a.a.O., S.426.
[36] Vgl. zu einem ähnlichen Problem den Sammelband aus dem Merve Verlag: Philosophen-Künstler. Hrsg. Gerhard-Johann Lischka, Berlin 1986. Hier besonders der Beitrag von Hannes Böhringer: Künstlerphilosphentheologen, S.7-28.
[37] Thomas Kapielski: Zum Hafthaken. Fotos und Texte mit Haken. Berlin 1989. Erschienen in Wiens Verlag.
[38] Die neue Wohnung habe ich schon seit drei Jahre, und Kapielski bekommt natürlich ein Freiabonnement von mdu.
[39] Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M. 1973, S.391. Dass der Titel Aufrechter Stuhlgang dem "Dingens" nicht einfach nur hinzugefügt wird, sondern sich in der Analogie von Körperhaltung und biegbarem Stil des Mikrophonständers begründen könnte, kann bei der fortgeschrittenen Diskussion nur noch in einer Anmerkung erscheinen. Darauf weiter einzugehen, würde uns in der Diskussion zurückwerfen.
[40] Thomas Kapielski hat seine Tätigkeit als produzierender Künstler in der Zwischenzeit ganz eingestellt. Seine letzte Tat in diesem Métier war die Ausstellung Ist der Künstler abwesend? in der Galerie Petersen, Berlin, 26.04.-11.05.1991. Ein Bericht von Kapielski über die Voraussetzungen und Folgen der Ausstellung in: Gesamtkatalog '92. Wiens Laden & Verlag, Berlin 1992. Seit 1990 ist Thomas Kapielski Herausgeber des Bulletins G.S.P. (Große Scheiße passiert), von dem bereits fünf Nummern erschienen sind.
[41] Adorno: a.a.O., S.489.
[42] Die Gänsehaut besteht aus einer postkartengroßen, rosa eingefärbten Gipsplatte mit kleinen Erhebungen, in denen einzelne Pinselhaare stecken. Sie hängt an der Wand gegenüber dem Anführungsstrichelchen-oben-Objekt.
[43] Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Friedrich Glauner.

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