Sonntag, 26. August 2007

mdu 1 - Kunstgeschichte von unten

"Begegnet man dem Kissen in der Kunst, wird man in eine strategisch geführte Auseinandersetzung hineingezogen, deren Ziel es ist, zu unterliegen. Es geht um die Basis. Wer die Position des Zugrundeliegenden einnehmen kann, bestimmt als Unterlage den Überbau, und die Tiefe eines Gedankens entscheidet sich daran, ob er sich unter sein Objekt schieben kann oder auf ihm liegen bleibt." Mit dieser Aufforderung, die Konsequenzen aus der Metapher des unterliegenden Kissens als den Ort der Auseinandersetzung um die Funktion und Interpretation von Kunst zu ziehen, schloss ich 1988 meinen Text zur Grundlegung der Unterlagenforschung. Die Formulierung war unklar genug, um an der Absicht, die sie beinhaltete, weiterzuarbeiten, zumal das Buch Kissen in der Kunst eigentlich nur eine Materialsammlung war, aus der sich zum Schluss die Erkenntnis herausbildete, mit der ikonographischen Überbewertung eines banalen, kunsthistorisch uninteressanten Gegenstandes - fast entgegen der ursprünglichen Zielsetzung - wieder auf festem kunsthistorischen Boden angelangt zu sein.

Dieses Ergebnis ließ zwei Schlüsse zu: entweder ist das Kissen, dessen motivgeschichtliche Entwicklung ich verfolgt hatte, wirklich ein ikonographisch bedeutender Gegenstand quer durch die Epochen, oder aber die ikonographische, motivgeschichtliche Methode, deren ich mich bedient hatte, produziert für das Wissenschaftsverständnis der Kunsthistoriker automatisch akzeptable Ergebnisse, unabhängig von dem Gegenstand, auf den man sie anwendet. Für die letzte Möglichkeit sprach, dass ich am Anfang das Kissen wirklich für ein nichtssagendes, unbedeutendes Etwas hielt und mir sicher war, jeder hätte mir zugestimmt.

Auslöser für das ganze Projekt Kissen in der Kunst war die Zeichnung Sechs Kissen von Albrecht Dürer, dessen formale Ähnlichkeit mit den seriellen Darstellungen banaler Motive bei Andy Warhol mich verblüfft hatte. Unvorbelastet rangierte damals das Kissen auf der gleichen Ebene einer Bedeutungsskala wie Suppendosen, aber bei der Veröffentlichung war ich mir dann nicht mehr ganz so sicher, ob nicht bei entsprechendem interpretatorischen Einsatz selbst dem konservierten Fertiggericht eine größere ikonographische Relevanz nachgewiesen werden könnte, als man ihm gemeinhin zuspricht.


Ob nun das Kissen, dessen eminente kunsthistorische Bedeutung als Ergebnis meiner wissenschaftlich korrekten Untersuchung zu Tage getreten war, diesen Rang tatsächlich verdient, oder ob es nur durch unverhältnismäßigen Forschungsaufwand in diesen Stand versetzt wurde, war die offene Frage. Zunächst schien es mir noch möglich, gerade mit dem Argument des interpretatorischen Aufwandes selbstkritisch eine Grenzziehung leisten zu können, Interpretation von Überinterpretation zu scheiden, doch erste metakritische Überlegungen ergaben, dass gerade dieses Kriterium eher ein Teil des Problems war, als seine Lösung.

Der Kitt, der eine Kette kunsthistorischer Indizien zusammenhält und zu einer glaubwürdigen Interpretation führt, ist die Plausibilität. Die Form des regelhaften Beweises, wie in der Mathematik, ist im Bereich der Kunstgeschichte nicht möglich, und die Überprüfung einer Interpretation an der Praxis, das heißt an der Akzeptanz durch Kunstpublikum und Fachleute, läuft nur auf eine Bestimmung eben dieser Plausibilität hinaus und nicht auf eine Kritik dessen, was durch sie behauptet wird.

Zu konstatieren ist also, dass innerhalb eines fließenden und sich entwickelnden Bedeutungssystems die Grenzen der Interpretierbarkeit ganz wesentlich durch die vollzogenen Interpretationen bestimmt werden, mithin das Kriterium für glaubwürdige Interpretationen - also deren Plausibilität - durch ihr maßvolles Überschreiten.

Die Frage, ob Kissen in der Kunst einem unterbeachteten Motiv der Kunstgeschichte zu Recht die Tür geöffnet hat oder aufgrund einer systembedingten Schwäche in eine Interpretationsrückkopplung geraten ist, bleibt vorläufig unentscheidbar. Die folgende Untersuchung wird das Problem zwar auch nur verschieben, aber zumindest die aktuelle Verwunderung in Fachkreisen über die Bedeutung des Kissens in der Kunst abschwächen und den Gegenstand weiter in den Bereich der kunsthistorischen Normalität rücken.

Die Geschichte fing mit einem Zufall an, der darin bestand, dass ich auf die Abbildung einer Skulptur von Donatello aufmerksam wurde: die Darstellung der Enthauptung des Holofernes durch Judith. Die um 1450 entstandene Brunnenskulptur aus Bronze fand zunächst nur deshalb mein Forscherinteresse, weil die beiden Figuren auf einem Kissen sitzen bzw. stehen. Nur wenig später stieß ich dann auf die Abbildung einer weiteren Skulptur, bei der ein Kissen als Unterlage für zwei Figuren dient: Benvenuto Cellinis Darstellung der Enthauptung der Medusa durch Perseus.

Kissen sind für die Skulptur, soweit ich das beurteilen kann, ein äußerst selten gewählter Gegenstand; dass das Kissen bei diesen beiden Skulpturen jeweils auch noch in Verbindung mit der Enthauptung erscheint, machte mich neugierig. Die Vermutung lag nahe, dass hier eine besondere Beziehung existieren musste. Schon der erste Blick in die Literatur brachte für mich sogleich die bestätigende Sensation: Beide Skulpturen stehen auf dem Rathausplatz von Florenz, der Piazza della Signoria. Und mehr als nur das: Bei der Aufstellung der Perseus-Medusa-Gruppe im Jahr 1545 im linken Bogen der Loggia dei Lanzi, einer dreischiffigen offenen Halle am Rathausplatz, stand die Judith-Holofernes-Gruppe im rechten Bogen! Nicht nur, dass die beiden Skulpturen ein verwandtes Thema hatten und jeweils ein Kissen als Unterlage für die Figurengruppen, sie standen auch noch über dreißig Jahre nebeneinander und würden vielleicht heute noch so stehen, wenn die Arbeit Donatellos nicht ihren Platz im Jahr 1583 für den Raub der Sabinerinnen von Giovanni da Bologna hätte räumen müssen. Hier waren weitere Nachforschungen dringend geboten. Nach alledem mussten die Kissen eine besondere Bedeutung haben.

Die parallele, konkurrierende Aufstellung der beiden Skulpturen ist tatsächlich keine zufällige, sondern das Ergebnis einer hochinteressanten stadtpolitischen Auseinandersetzung[1]. Um 1500 gab es in Florenz ein heftiges Ringen um die Macht und die Verfassung des Stadtstaates, der seit dem 13.Jahrhundert demokratisch regiert wurde. Im 15.Jahrhundert gelang es den Mitgliedern der aristokratischen Kaufmannsfamilie der Medici, die Macht in der Stadt de facto an sich zu bringen, wenn auch formal unter Beachtung der republikanischen Formen. Als 1494 Karl VIII. von Frankreich die Stadt besetzte, wurden die Medici vertrieben, und der Dominikanermönch Girolamo Savonarola versuchte, eine theokratische Demokratie zu errichten, die 1498 zusammenbrach. 1512 erzwang Papst Julius II. die Rückkehr der Medici nach Florenz. Nach einer erneuten Vertreibung durch die Familie der Strozzi gelang den Medici unter Kaiser Karl V. und dem Medicipapst Clemens VII. die endgültige Rückkehr. Florenz wurde 1532 in eine Monarchie umgestaltet mit Alessandro de' Medici als erstem Herzog. Dessen Ermordung 1537 eröffnete dann erneut verschiedenen Parteien die Möglichkeit, sich der Stadt zu bemächtigen, insbesondere den aus der Stadt vertriebenen Anhängern der Republik, die sich mit Frankreich gegen die Medici verbündet hatten. Diese Allianz wurde 1537 durch das Florentiner Heer unter Führung des erst achtzehnjährigen Cosimo Medici vernichtend geschlagen. Cosimo ließ die Anführer der republikanischen Bewegung öffentlich vor dem Rathaus köpfen und festigte seine Stellung durch den Erhalt des erblichen Herzogtitels durch Kaiser Karl V. im Jahre 1538.

Der politische Zweikampf zwischen republikanischen und mediceischen Interessen spiegelt sich in der Beziehung zwischen den beiden Skulpturen. Donatello hatte die Judith-Holofernes-Gruppe für einen Brunnen im Hof des Stadtpalastes der Medici geschaffen. Dort stand sie bis 1495. Bei der in diesem Jahr vollzogenen Vertreibung der Medici aus der Republik Florenz wurden ihre Paläste geplündert, die Brunnenskulptur demontiert und direkt vor dem städtischen Rathaus als Beutestück auf einem neuen Sockel ausgestellt. Aus Donatellos Skulptur wurde durch diese Umsetzung etwas, was sie vorher nicht war: ein politisches Denkmal. Der Sieg der Republik über das wirtschaftlich übermächtige Adelsgeschlecht der Medici erhielt seinen symbolischen Ausdruck und gleichzeitig bekam der politische Umsturz eine quasi religiöse Rechtfertigung, die sich aus der Analogie zur Judith-Geschichte ergab.

Dem apokryphen biblischen Text zufolge wurde Judiths Vaterstadt Bethulia von assyrischen Truppen unter der Führung des Holofernes belagert und stand kurz vor der Niederlage, da es Holofernes gelungen war, die Wasserversorgung der Stadt zu unterbinden.

In dieser Situation entscheidet sich Judith, eine ehrbare Witwe, die von der Einfallslosigkeit und Glaubensschwäche ihrer Regierung enttäuscht ist, zu einer Einzelaktion. Unter Einsatz aller Mittel, die man gemeinhin als Waffen der Frau bezeichnet, gelingt es ihr, in das Lager des Holofernes einzudringen und dort, unter der Vorspiegelung, dass sie es lieber mit dem Sieger halte, das Begehren des feindlichen Heerführers zu wecken. Nach nur drei Tagen ist die Situation erreicht, auf die es Judith abgesehen hat. Sie befindet sich mit Holofernes, der von der Erwartung des nahen Sieges und vom genossenen Alkohol vollkommen berauscht ist, in vermeintlich trauter Zweisamkeit. Entschlossen enthauptet sie den hilflosen Holofernes mit seinem eigenen Schwert, trägt den Kopf unentdeckt zurück in ihre Stadt und lässt ihn auf den Zinnen der Stadtmauer ausstellen. Die Truppen der belagerten Stadt wagen daraufhin einen überraschenden Ausfall und können das kopflose feindliche Heer besiegen.

Die Symbolik des biblischen Textes liegt offen. Es handelt sich bei der Belagerung und Verteidigung der Stadt natürlich um einen durch Gottvertrauen gewonnenen Glaubenskrieg. Judith wurde daher als Heldin des wahren Glaubens verehrt und oft genug als weibliches Pendant zu David, dem Sieger über Goliath, künstlerisch dargestellt[2].

Daraus ergibt sich das mit der Aufstellung der Judith-Gruppe vor dem Rathaus intendierte politische Programm. Die republikanische Bewegung identifizierte sich mit Judith, während der besiegte Holofernes stellvertretend für die niedergeschlagene Macht der Medici in Florenz zu gelten hat. 1503, die Medici waren noch nicht wieder an der Macht, wurde Donatellos Skulptur schließlich in den rechten Bogen der Loggia dei Lanzi versetzt und an ihrer Stelle der David (1501-03) von Michelangelo aufgestellt. Man kann darin durchaus den Ausdruck eines gesteigertes Selbstbewusstseins der Republik erkennen, denn Michelangelos David zeigt eine so große Siegesgewissheit, dass er nicht einmal darauf angewiesen ist, den besiegten Gegner als Beweis anzuführen, und mit diesem abwesenden Gegner ist durch die Analogie von Goliath und Holofernes wiederum die vertriebene Familie der Medici gemeint.

Da seit 1537 die politische Situation in Florenz erneut durch die Medici bestimmt wurde, verlangte die Symbolik der Skulpturen auf dem Rathausplatz nach einer Korrektur im Sinne der neuen Machthaber. Andererseits war ein öffentliches Auftreten gefordert, das die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unnötig destabilisierte. Der Entschluss von Cosimo dem I., die Symbole der Republik nicht zu schleifen, muss daher als politisches Raffinement angesehen werden. Statt dessen beauftragte er Cellini mit einer Perseus-Skulptur, die, in einer erneuerten und invertierten Analogie, die republikanischen Skulpturen neutralisieren sollte, so wie er selbst die republikanische Stadtverfassung aufgehoben hatte[3].

Die politische Bedeutung der Perseus-Medusa-Gruppe ist klar.[4] Perseus steht für Cosimo, und die enthauptete Medusa repräsentiert die republikanische Verfassung. Der Stadt wird das abgeschlagene Haupt der Medusa mit all ihrer bedrohenden Macht vorgehalten, als Warnung und Einschüchterung eines zu allem entschlossenen Herrschers. Der jugendliche Held präsentiert sich dominierend mit allen Insignien seiner Macht, dem Schwert, der Tarnkappe, den Flügelschuhen und dem versteinernden Kopf, der Bevölkerung von Florenz. Mit dem unbelasteten linken Bein steht er auf dem krampfhaft verkrümmten Körper der Medusa. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass kaum ein Besiegter je so entwürdigt dargestellt wurde.[5]

So weit das politische Umfeld und die symbolische Funktion der beiden Skulpturen - ohne Frage eine paradigmatische Verbindung von Kunst und Politik. Die eigentlich spannende Frage aber, von der ich ausgegangen war, stellt sich erst jetzt mit voller Intensität: Was bedeuten die beiden Kissen unter den Enthauptungsgruppen?

Die Frage in Bezug auf die erste Skulptur zu beantworten, scheint einfach. Das Kissen unter der Judith-Holofernes-Gruppe von Donatello kann mit gutem Grund, unter Zuhilfenahme des biblischen Textes, als schlichter Verweis auf das Bett interpretiert werden, in dem der Mord stattgefunden hat: als Tatort. Das ist sicher richtig, aber unzureichend, denn das Kissen ist ikonographisch vieldeutig[6] und zumindest durch eine Stelle aus dem Alten Testament als Symbol des Unglaubens belastet: "Darum spricht der Herr Herr: Siehe, ich will an eure Kissen, womit ihr die Seelen fanget und vertröstet, und will sie von euren Armen wegreißen und die Seelen, so ihr fanget und vertröstet, losmachen. Und will eure Pfühle zerreißen und mein Volk aus eurer Hand erretten, dass ihr sie nicht mehr fangen sollt; und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr sei."[7] Die Rettung des Volkes Israel wird in dieser Prophezeiung symbolisch verbunden mit dem Öffnen von Kissen. Die gefangenen Seelen sollen ihre Freiheit erhalten wie die Federn durch das Zerreißen der Kissenbezüge.

Nun war die Judith-Holofernes-Gruppe aber ursprünglich eine funktionierende Brunnenskulptur und die Öffnungen, aus denen das Wasser sprudelte, befinden sich an den vier Ecken des Kissens! Zunächst ist hier wieder, dicht am Text, die Verbindung zu der Judith-Geschichte selbst zu sehen. Nach dem Sieg der Stadt Judiths über Holofernes' Truppen und dem Ende der Blockade floss natürlich wieder das Wasser in der Stadt. Mehrfach wird in der Judith-Geschichte die wiedergewonnene Wasserversorgung mit der Glaubensfreiheit in Verbindung gebracht, so dass sich für die Brunnenskulptur feststellen lässt, dass mit der Benennung des Kissens als Tatort die möglichen Bedeutungen des Kissens bei Donatello keineswegs ausgeschöpft sind.[8]

Schwieriger gestaltet sich eine Beantwortung unserer Frage nach der Bedeutung des Kissens in Cellinis Skulptur. Anders als bei der Judith-Geschichte gibt es im Perseus-Mythos nämlich keinen Hinweis auf ein Kissen. Die einzige bisher vorgebrachte Begründung für das dargestellte Kissen führt einen nicht näher erläuterten Zwang zur formalen Entsprechung mit der Skulptur von Donatello an.[9] Cellini habe einen Bezug zu Donatellos Arbeit gesucht, ihn zunächst in einem runden Sockel gefunden, ihn aber schließlich durch das Kissen bewerkstelligt. Das ist natürlich, um es vorsichtig zu sagen, vollkommen unzureichend. Der Dialog der beiden Skulpturen ist so komplex, dass eine derart verkürzte Erklärung nur verdecken soll, dass eigentlich noch keine einleuchtende Interpretation vorliegt.

Als Entwürfe für die ausgeführte Skulptur sind ein Terrakotta- und ein Bronzemodell erhalten, aus denen ersichtlich wird, dass verschiedene Möglichkeiten im unteren Bereich der Skulptur durchgespielt wurden. Cellini war unentschlossen, ob der Körper der Medusa bekleidet oder nackt darzustellen sei und ob die Skulptur auf einem runden oder eckigen Sockel stehen solle. Das Kissen aber ist sowohl bei den beiden Modellen wie auch bei der ausgeführten Version vorhanden, so dass es als wesentliches, für Cellini unverzichtbares Motiv gewertet werden muss. Das gilt umso mehr, da die Szene der Enthauptung nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist und daher ein Stein oder dergleichen ebenso als Basis denkbar wäre. Ein Stein hätte genauso gut den Übergang vom Sockel zur Figurengruppe vermitteln und eine formale Beziehung zur Arbeit Donatellos herstellen können. Die Wahl eines Kissens als Basis war also weder durch den Auftraggeber, noch durch die literarischen Vorlagen oder formale Zwänge von Cellini gefordert.

Gerade weil aber die Parallele zum Kissen bei Donatello für Cellini nicht zwingend war und er es doch von Anfang an als unverzichtbar behandelte, kann seine Motivwahl nicht unabhängig von der Skulptur Donatellos gefallen sein. Soweit ist das oben angeführte Argument einer gesuchten Entsprechung richtig. Aber der Grund für die Wiederholung des Kissens - und damit komme ich zu meiner These - ist nicht in literarischen, politischen oder formalen Vorgaben zu suchen, sondern allein im künstlerischen Traditionsbewusstsein des Künstlers Benvenuto Cellini. Das Kissen der Perseus-Medusa-Gruppe ist der Ausdruck für ein künstlerisches Selbstverständnis Cellinis, das vor allem in dem freiwillig gewählten Bezug zu einem anderen Künstler zu suchen ist. Durch die Wiederholung des Kissens, mit dem er dem großen Donatello seine anerkennende Referenz erweist, formuliert Cellini eine künstlerische Korrespondenz zwischen den beiden Skulpturen, die sich der Abhängigkeit von politischen Rahmenbedingungen bewusst ist und doch gegen diese Abhängigkeit revoltiert.

Cellini lag daran, sich von der Position eines Propagandisten für einen politischen Herrscher abzusetzen. So wenig ein Künstler ohne das Geld der Auftraggeber und deren Wünsche auskam, so gehörte es doch offensichtlich zum künstlerischen Selbstbewusstsein Cellinis[10] nicht in der Funktion eines Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit aufzugehen. Cellini war, anders als Donatello, dessen Skulptur nachträglich politisiert wurde, direkt mit einem politischen Denkmal beauftragt, und er musste sich als Künstler dazu verhalten. Ihm, der sich als international bekannter Künstler die Auftraggeber nahezu aussuchen konnte, muss es besonders bewusst gewesen sein, dass er mit seinen künstlerischen Intentionen außerhalb der wechselnden Machtverhältnisse stand, die darzustellen seine Aufgabe war.

Seine Skulptur bietet dem politisch denkenden Florentiner Bürger, ganz im Sinne des Auftraggebers, nur zwei mögliche Reaktionsweisen: Erstens die der paradoxen Identifikation mit dem Monarchen durch die Akzeptanz der eigenen Position als gehorsamer Untertan, und zweitens die einer unangenehmen und aussichtslosen Identifikation mit dem besiegten republikanischen Gegner. In keiner dieser Rollen konnte sich Cellini als Künstler ganz wiederfinden, und er verdeutlichte das, indem er bei seiner Skulptur durch das Kissen eine weiteren Ort markierte, der außerhalb - in diesem Fall unterhalb - der wechselnden Hierarchien von politischen Kräften liegt, aber innerhalb der Kunst. Überspitzt könnte man die Botschaft des Kissens so formulieren: Herrscher kommen und gehen, die Kunst bleibt.

Die Interpretation des Kissens als Position des gesellschaftlich unterlegenen Künstlers, aber auch als selbstbewusste Basis für die Bestimmung des Wertes der Kunst, findet ein weiteres Argument durch den Ort der Signaturen. Donatello hatte seinen Namen, in der Hauptansicht gut lesbar, ausgerechnet auf den Rand des Kissens gesetzt. Cellini hat dieses Motiv nicht übernommen, sein Name steht stattdessen auf dem Gurt, der quer über die Brust des Perseus läuft. Diesen Gurt hat Cellini, so lässt sich vermuten, nur hinzugefügt, um seinen Namen möglichst auffallend zu platzieren, denn beim Bronzemodell, das der ausgeführten Skulptur sehr nahe kommt, ist er noch nicht vorhanden. Cellini war es also wichtig, seine Autorenschaft demonstrativ anzubringen, wofür sich die dramatische untere Zone schlecht eignete. Auf der Brust dagegen befindet sich der Name im ruhenden Zentrum der Skulptur, unbeeinflusst von den Zeichen politischer Gewalt und Unterwerfung.

Richtig ist, dass durch den signierten Brustgurt wiederum eine nicht unbeabsichtigte, enge Verbindung zwischen Cellini und der Siegerfigur des Perseus entsteht. Die zwangsläufig folgende Frage ist dann: Sieger über wen? Über Donatello?

Das ist nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Cellini hat sich mehrfach über Donatello geäußert und seine uneingeschränkte Bewunderung bekundet. Wenn eine Antwort auf die Frage nach dem Unterlegenen im Sinne Cellinis gegeben werden soll, dann würde ich sie mit dem Hinweis auf die vorgegebene Aufstellungssituation versuchen. Donatellos Skulptur war im strengen Sinne der Denkmalpflege durch politische Interessen beschädigt. Ihrer Funktion als Brunnen hatte man sie beraubt, das den Sockel mitgestaltende Element des fließenden Wassers fehlte und die mit Sicherheit ursprünglich vorhandene ausgewogene Beziehung zwischen Skulptur, dreieckigem Bronzesockel und Wasserbecken war verschwunden. Stattdessen verzerrte ein runder, unpassender zusätzlicher Sockels die Gesamtwirkung der Skulptur so, dass noch heute die Judith-Gruppe in ihrer überlieferten Form zu den weniger gelungenen Arbeiten Donatellos gerechnet wird. Zudem trug der neue Sockel die Inschrift "EXEMPLUM SALUTIS PUBLICAE CIVES POSERUNT 1495"[11] wodurch dem Betrachter von vornherein eine politische Rezeption aufgezwungen wurde, die schon aus historischen Gründen mit der künstlerischen Arbeit Donatellos nichts zu tun hatte.

Cellinis Aufgabe bestand also, mit den Augen des Künstlers gesehen, darin, ein Gegenstück zu einer durch politische Interessen ruinierten Skulptur zu gestalten, mit einem Schicksal vor Augen, vor dem auch seine erst noch zu schaffende Skulptur auf Dauer nicht gefeit sein würde.[12] Cellini hat, wahrscheinlich unter Beachtung aller vorgegebenen Auflagen, mit geradezu subversiver Ironie die Situation dadurch bewältigt, dass er die bei Donatello vorgefundene Struktur strikt reproduzierte. Der Marmorsockel ist mit Steinbockköpfen - der Imprese Cosimos - verziert, so dass die auf ihm stehende Skulptur für die Florentiner sofort als ein von den Medici in Auftrag gegebenes, politisches Denkmal zu identifizieren war. Durch die genau gleiche hierarchische Abfolge von Sockel, Kissen, Besiegtem und Sieger, nur mit umgekehrtem politischen Vorzeichen, veranschaulicht Cellini die Austauschbarkeit der politischen Inhalte und neutralisiert sie wechselseitig, um gegenüber seinem Auftraggeber, und allgemeiner, gegenüber jeglichen politischen Kräften, einen Freiraum für die Kunst zu gewinnen.

Mit der Widerholung des Kissens öffnet Cellini den beengenden Dualismus von oben und unten, von Politik und Kunst, von Macht und Ohnmacht. Er etabliert eine dritte Ebene: unten der Sockel als notwendige Schwelle zur Sphäre der Reflexion, oben die Darstellung des Krieges um die gesellschaftliche Macht[13] mit seinen wechselnden Zwischenergebnissen und schließlich - irgendwie dazwischen - das Kissen als die Position des Künstlers, immer im Bewusstsein des kunsthistorischen Ortes und der Abhängigkeit vom jeweiligen Auftraggeber, aber mit gleichbleibender Präsenz und der Fähigkeit, im Clair-obscur[14] der Geschichte die Position des Unterliegenden zu fordern und das Gegenteil zu erhalten. Das Kissen bei Cellini behauptet in der erzwungenen politischen Konkurrenz zweier Skulpturen - tertium datur - die Kunst.
Heinz-Werner Lawo
In: mdu - Mitteilungen der Unterlagenforschung, Heft 1, Berlin 1992, S.7-13

[1] Zur Problematik der Skulpturen auf dem Platz: K. Weil-Garris: On Pedestals: Michelangelos's David, Bandinelli's Herkules and Cacus and the Sculpture of the Piazza della Singoria. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte, 20, 1983, S.378ff.
[2] Als zeitnahes berühmtes Beispiel: die dem Zacharias benachbarten beiden Eckzwickel der Decke der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo.
[3] Cellini berichtet, dass ihn Cosimo nach dem Guss und vor der Aufstellung dazu aufforderte, in seiner Werkstatt die Skulptur öffentlich zu zeigen. Dem Herrscher war offensichtlich daran gelegen, die Reaktion der Bevölkerung vorab zu testen.
[4] Überzeugend dargelegt von Thomas Hirthe: Die Perseus-und-Medusa-Gruppe des Benvenuto Cellini in Florenz. In: Jahrbuch der Berliner Museen. Neue Folge 29-30, 1987/88, S.197-216. An dem insgesamt hervorragenden Artikel wäre zu bemängeln, dass die Sprache in einzelnen Formulierungen sich zu sehr von der inhaltlichen Identifikation mit dem Sieger Cosimo überwältigen lässt. Sachlich falsch ist die Behauptung (S.197, Anm.4), dass ausser Ovids Metamorphosen keine weiteren Quellen für Cellini von Bedeutung waren. Eindeutig ist die Kenntnis der Eikonos von Flavius Philostratos. Mit dessen Beschreibung eines antiken Perseus-Gemäldes lässt sich die zweite Jünglingsfigur im nachträglich angebrachten Relief unterhalb des Sockels, um dessen Interpretation sich Hirthe bemüht, als Darstellung des 'Furors' (Schrecken) identifizieren. Hier wird sowohl das geblähte Tuch wie auch der angstverzerrte Gesichtsausdruck beschrieben. 1517 erschien eine Neuausgabe der Eikonos bei den Giunti in Florenz, 1535 eine zweite Auflage. 1515 erstellte Stefano Negri von Cremona eine lateinische Übersetzung, die 1532 in Basel gedruckt wurde; vgl. hierzu: Richard Förster: Philostrats Gemälde in der Renaissance. In: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlung 25, 1904, S.15-48. Der Text der Eikonos stand Cellini also zur Verfügung, zumindest muss er im Beraterkreis um Cosimo bekannt gewesen sein. Für die Szene im Hintergrund des Reliefs mit dem älteren, reitenden Mann geben allerdings auch die Eikonos keine Erklärung. Wenn aber durch diese neue Quelle klar ist, dass nicht nur die Metamorphosen als literarische Quelle dienten, könnte die Klärung auch in einer dritten, noch unbekannten Quelle stecken.
[5] Hirte a.a.O.: S.199.
[6] vgl: Heinz-Werner Lawo: Kissen in der Kunst. Berlin 1988.
[7] Hesekiel 13,20-21. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Ralph Paschke.
[8] In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Donatellos Markus an der Fassade der Kirche Or San Michele auch auf einem Kissen steht. Eine Begründung für diesen 'Sockel' liegt bis jetzt noch nicht vor. Der Hinweis darauf, dass Markus als einziger der Evangelisten berichtet, dass Jesus in der Geschichte von der Stillung des Sturms auf einem Kissen geschlafen habe (Markus 4,35-41), reicht wohl nicht aus, andererseits habe ich schon in Kissen in der Kunst, (a.a.O., S.11), ohne diese Skulptur zu kennen, die Vermutung geäußert, dass zwischen Kissen und Evangelistendarstellung eine engere Beziehung vorliegen muss.
[9] Hirthe, a.a.O., S.202.
[10] Cellinis Autobiographie, zwischen 1558 und 1562 entstanden, ist eine der ersten, die in dieser Ausführlichkeit von einem Künstler geschriebenen wurde und das beste Argument für das starke Selbstwertgefühl des Künstlers. Sie wurde 1728 zum ersten Mal veröffentlicht und 1803 von Johann Wolfgang von Goethe ins Deutsche Übersetzt. Als erste Autobiographie eines Künstlers nördlich der Alpen ist Albrecht Dürers kurze Familienchronik von 1524 zu betrachten.
[11] "Als Beispiel zum Wohl der Öffentlichkeit von den Bürgern aufgestellt 1495".
[12] Seiner Skulptur ist tatsächlich dadurch geschadet worden, dass ihr Donatellos Arbeit als korrespondierende Skulptur genommen wurde. Es scheint mir nicht so, dass durch Giovanni da Bolognas Raub der Sabinerinnen, unbeschadet der Qualität als Einzelstück, ein gleichwertiger Ersatz für das spannende Verhältnis der zwei Arbeiten von Cellini und Donatello geschaffen wurde. Die Arbeit Donatellos steht jetzt wieder vor dem Palazzo Vecchio, links neben einer Kopie des David von Michelangelo, dessen Original sich in der Galerie der Akademie befindet. Rechts neben der Kopie des David steht Bartholommeo Bandinellis Skulptur Herkules und Kakus (1530-34), so dass die beiden Skulpturen den Haupteingang zum Palazzo Vecchio flankieren. Erst kurz vor Drucklegung stieß ich auf die Information, dass Kakus, den Herkules in der Darstellung noch nicht erschlagen hat, ihn aber der mythologischen Geschichte zufolge erschlagen wird, ein Sohn des Vulkan und der Medusa(!) ist. Es besteht die Möglichkeit, dass sich bereits in der Opposition von David und Herkules, bzw. von Goliath und Kakus, die politische Situation in Florenz - 1532 erfolgte Alessandro de' Medicis Ernennung zum Herzog - niedergeschlagen hat. In diese Überlegung spielt das Wissen um die, im Gegensatz zum Verhältnis zwischen Cellini und Donatello, offen feindselige und zeitgleiche Konkurrenz zwischen Bandinelli und Michelangelo hinein, der selbst Entwürfe für eine Skulptur zum gleichen Thema angefertigt hat.
[13] In diesem Zusammenhang ist die Definition des Krieges durch Carl von Clausewitz erhellend: "Wir wollen hier nicht erst in eine schwerfällige publizistische Definition des Krieges hineinsteigen, sondern uns an das Element desselben halten, an den Zweikampf. Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf." Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hamburg 1963, S.13.
[14] Vgl. hierzu: Hannes Böhringer: Attention im Clair-obscur: Die Avantgarde. In: ders.: Begriffsfelder. Von der Philosophie zur Kunst. Berlin 1985, S.109-128.

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